Linie also wiederum durch Anpassungs- oder Vererbungsgesetze be- dingt sind. Dasselbe gilt von der Willensthätigkeit aller Thiere. So- bald man diese eingehend im Zusammenhang mit ihrer Lebensweise betrachtet, und in ihrer Beziehung zu den Veränderungen, welche die Lebensweise durch die äußeren Bedingungen erfährt, so überzeugt man sich alsbald, daß eine andere Auffassung nicht möglich ist. Da- her müssen auch die Veränderungen der Willensbewegung, welche aus veränderter Ernährung folgen, und welche als Uebung, Gewohn- heit u. s. w. umbildend wirken, unter jene materiellen Vorgänge der gehäuften Anpassung gerechnet werden.
Jndem sich der thierische Wille den veränderten Existenzbedin- gungen durch andauernde Gewöhnung, Uebung u. s. w. anpaßt, vermag er die bedeutendsten Umbildungen der organischen Formen zu bewirken. Mannigfaltige Beispiele hierfür sind überall im Thierleben zu finden. So verkümmern z. B. bei den Hausthieren manche Or- gane, indem sie in Folge der veränderten Lebensweise außer Thätig- keit treten. Die Enten und Hühner, welche im wilden Zustande aus- gezeichnet fliegen, verlernen diese Bewegung mehr oder weniger im Culturzustande. Sie gewöhnen sich daran, mehr ihre Beine, als ihre Flügel zu gebrauchen, und in Folge davon werden die dabei gebrauch- ten Theile der Muskulatur und des Skelets in ihrer Ausbildung und Form wesentlich verändert. Für die verschiedenen Rassen der Haus- ente, welche alle von der wilden Ente (Anas boschas) abstammen, hat dies Darwin durch eine sehr sorgfältige vergleichende Messung und Wägung der betreffenden Skelettheile nachgewiesen. Die Knochen des Flügels sind bei der Hausente schwächer, die Knochen des Beines dagegen umgekehrt stärker entwickelt, als bei der wilden Ente. Bei den Straußen und anderen Laufvögeln, welche sich das Fliegen gänzlich abgewöhnt haben, ist in Folge dessen der Flügel ganz verkümmert, zu einem völlig "rudimentären Organ" herabgesunken (S. 10). Bei vielen Hausthieren, insbesondere bei vielen Rassen von Hunden und Kaninchen bemerken Sie ferner, daß dieselben durch den Culturzustand herabhängende Ohren bekommen haben. Dies ist ein-
Gehaͤufte oder cumulative Anpaſſung.
Linie alſo wiederum durch Anpaſſungs- oder Vererbungsgeſetze be- dingt ſind. Daſſelbe gilt von der Willensthaͤtigkeit aller Thiere. So- bald man dieſe eingehend im Zuſammenhang mit ihrer Lebensweiſe betrachtet, und in ihrer Beziehung zu den Veraͤnderungen, welche die Lebensweiſe durch die aͤußeren Bedingungen erfaͤhrt, ſo uͤberzeugt man ſich alsbald, daß eine andere Auffaſſung nicht moͤglich iſt. Da- her muͤſſen auch die Veraͤnderungen der Willensbewegung, welche aus veraͤnderter Ernaͤhrung folgen, und welche als Uebung, Gewohn- heit u. ſ. w. umbildend wirken, unter jene materiellen Vorgaͤnge der gehaͤuften Anpaſſung gerechnet werden.
Jndem ſich der thieriſche Wille den veraͤnderten Exiſtenzbedin- gungen durch andauernde Gewoͤhnung, Uebung u. ſ. w. anpaßt, vermag er die bedeutendſten Umbildungen der organiſchen Formen zu bewirken. Mannigfaltige Beiſpiele hierfuͤr ſind uͤberall im Thierleben zu finden. So verkuͤmmern z. B. bei den Hausthieren manche Or- gane, indem ſie in Folge der veraͤnderten Lebensweiſe außer Thaͤtig- keit treten. Die Enten und Huͤhner, welche im wilden Zuſtande aus- gezeichnet fliegen, verlernen dieſe Bewegung mehr oder weniger im Culturzuſtande. Sie gewoͤhnen ſich daran, mehr ihre Beine, als ihre Fluͤgel zu gebrauchen, und in Folge davon werden die dabei gebrauch- ten Theile der Muskulatur und des Skelets in ihrer Ausbildung und Form weſentlich veraͤndert. Fuͤr die verſchiedenen Raſſen der Haus- ente, welche alle von der wilden Ente (Anas boschas) abſtammen, hat dies Darwin durch eine ſehr ſorgfaͤltige vergleichende Meſſung und Waͤgung der betreffenden Skelettheile nachgewieſen. Die Knochen des Fluͤgels ſind bei der Hausente ſchwaͤcher, die Knochen des Beines dagegen umgekehrt ſtaͤrker entwickelt, als bei der wilden Ente. Bei den Straußen und anderen Laufvoͤgeln, welche ſich das Fliegen gaͤnzlich abgewoͤhnt haben, iſt in Folge deſſen der Fluͤgel ganz verkuͤmmert, zu einem voͤllig „rudimentaͤren Organ“ herabgeſunken (S. 10). Bei vielen Hausthieren, insbeſondere bei vielen Raſſen von Hunden und Kaninchen bemerken Sie ferner, daß dieſelben durch den Culturzuſtand herabhaͤngende Ohren bekommen haben. Dies iſt ein-
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Gehaͤufte oder cumulative Anpaſſung.
Linie alſo wiederum durch Anpaſſungs- oder Vererbungsgeſetze be-
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bald man dieſe eingehend im Zuſammenhang mit ihrer Lebensweiſe
betrachtet, und in ihrer Beziehung zu den Veraͤnderungen, welche die
Lebensweiſe durch die aͤußeren Bedingungen erfaͤhrt, ſo uͤberzeugt
man ſich alsbald, daß eine andere Auffaſſung nicht moͤglich iſt. Da-
her muͤſſen auch die Veraͤnderungen der Willensbewegung, welche
aus veraͤnderter Ernaͤhrung folgen, und welche als Uebung, Gewohn-
heit u. ſ. w. umbildend wirken, unter jene materiellen Vorgaͤnge der
gehaͤuften Anpaſſung gerechnet werden.
Jndem ſich der thieriſche Wille den veraͤnderten Exiſtenzbedin-
gungen durch andauernde Gewoͤhnung, Uebung u. ſ. w. anpaßt,
vermag er die bedeutendſten Umbildungen der organiſchen Formen zu
bewirken. Mannigfaltige Beiſpiele hierfuͤr ſind uͤberall im Thierleben
zu finden. So verkuͤmmern z. B. bei den Hausthieren manche Or-
gane, indem ſie in Folge der veraͤnderten Lebensweiſe außer Thaͤtig-
keit treten. Die Enten und Huͤhner, welche im wilden Zuſtande aus-
gezeichnet fliegen, verlernen dieſe Bewegung mehr oder weniger im
Culturzuſtande. Sie gewoͤhnen ſich daran, mehr ihre Beine, als ihre
Fluͤgel zu gebrauchen, und in Folge davon werden die dabei gebrauch-
ten Theile der Muskulatur und des Skelets in ihrer Ausbildung und
Form weſentlich veraͤndert. Fuͤr die verſchiedenen Raſſen der Haus-
ente, welche alle von der wilden Ente (Anas boschas) abſtammen,
hat dies Darwin durch eine ſehr ſorgfaͤltige vergleichende Meſſung
und Waͤgung der betreffenden Skelettheile nachgewieſen. Die Knochen
des Fluͤgels ſind bei der Hausente ſchwaͤcher, die Knochen des Beines
dagegen umgekehrt ſtaͤrker entwickelt, als bei der wilden Ente. Bei
den Straußen und anderen Laufvoͤgeln, welche ſich das Fliegen
gaͤnzlich abgewoͤhnt haben, iſt in Folge deſſen der Fluͤgel ganz
verkuͤmmert, zu einem voͤllig „rudimentaͤren Organ“ herabgeſunken
(S. 10). Bei vielen Hausthieren, insbeſondere bei vielen Raſſen von
Hunden und Kaninchen bemerken Sie ferner, daß dieſelben durch den
Culturzuſtand herabhaͤngende Ohren bekommen haben. Dies iſt ein-
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/211>, abgerufen am 28.11.2024.
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