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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Befestigte oder constituirte Vererbung.
Eigenschaft, welche dem Besitzer wegen der Abgrenzung des dortigen
Gebiets durch Hecken sehr vortheilhaft erschien. Er kam also auf den
Gedanken, diese Eigenschaft auf die Nachkommen zu übertragen, und
in der That erzeugte er durch Kreuzung dieses Schafbocks mit wohlge-
bildeten Mutterschafen eine ganze Rasse von Schafen, die alle die Ei-
genschaften des Vaters hatten, kurze und gekrümmte Beine und einen
langen Leib. Sie konnten alle nicht über die Hecken springen, und wur-
den deshalb damals in Massachusetts sehr beliebt und weit verbreitet.

Ein zweites Gesetz, welches ebenfalls unter die Reihe der pro-
gressiven oder fortschreitenden Vererbung gehört, können wir das
Gesetz der befestigten oder constituirten Vererbung

nennen, dasselbe äußert sich darin, daß Eigenschaften, die von einem
Organismus während seines individuellen Lebens erworben wurden,
um so sicherer auf seine Nachkommen erblich übertragen werden, je
längere Zeit hindurch die Ursachen jener Abänderung einwirken, und
daß diese Abänderung um so sicherer Eigenthum auch aller folgenden
Generationen wird, je längere Zeit hindurch auch auf diese die ab-
ändernde Ursache einwirkt. Die durch Anpassung oder Abänderung
neu erworbene Eigenschaft muß in der Regel erst bis zu einem ge-
wissen Grade befestigt oder constituirt sein, ehe mit Wahrscheinlichkeit
darauf zu rechnen ist, daß sich dieselbe auch auf die Nachkommen-
schaft erblich überträgt. Es verhält sich in dieser Beziehung die Verer-
bung ähnlich wie die Anpassung. Je längere Zeit hindurch eine neuer-
worbene Eigenschaft bereits durch Vererbung übertragen ist, desto siche-
rer wird sie auch in den kommenden Generationen sich erhalten. Wenn
also z. B. ein Gärtner durch methodische Behandlung eine neue Aepfel-
sorte gezüchtet hat, so kann er um so sicherer darauf rechnen, die er-
wünschte Eigenthümlichkeit dieser Sorte zu erhalten, je länger er dieselbe
bereits vererbt hat. Dasselbe zeigt sich deutlich in der Vererbung von
Krankheiten. Je länger bereits in einer Familie Schwindsucht oder
Wahnsinn erblich ist, desto tiefer gewurzelt ist das Uebel, desto wahrschein-
licher werden auch alle folgenden Generationen davon ergriffen werden.

Endlich können wir die Betrachtung der Erblichkeitserscheinungen

Befeſtigte oder conſtituirte Vererbung.
Eigenſchaft, welche dem Beſitzer wegen der Abgrenzung des dortigen
Gebiets durch Hecken ſehr vortheilhaft erſchien. Er kam alſo auf den
Gedanken, dieſe Eigenſchaft auf die Nachkommen zu uͤbertragen, und
in der That erzeugte er durch Kreuzung dieſes Schafbocks mit wohlge-
bildeten Mutterſchafen eine ganze Raſſe von Schafen, die alle die Ei-
genſchaften des Vaters hatten, kurze und gekruͤmmte Beine und einen
langen Leib. Sie konnten alle nicht uͤber die Hecken ſpringen, und wur-
den deshalb damals in Maſſachuſetts ſehr beliebt und weit verbreitet.

Ein zweites Geſetz, welches ebenfalls unter die Reihe der pro-
greſſiven oder fortſchreitenden Vererbung gehoͤrt, koͤnnen wir das
Geſetz der befeſtigten oder conſtituirten Vererbung

nennen, daſſelbe aͤußert ſich darin, daß Eigenſchaften, die von einem
Organismus waͤhrend ſeines individuellen Lebens erworben wurden,
um ſo ſicherer auf ſeine Nachkommen erblich uͤbertragen werden, je
laͤngere Zeit hindurch die Urſachen jener Abaͤnderung einwirken, und
daß dieſe Abaͤnderung um ſo ſicherer Eigenthum auch aller folgenden
Generationen wird, je laͤngere Zeit hindurch auch auf dieſe die ab-
aͤndernde Urſache einwirkt. Die durch Anpaſſung oder Abaͤnderung
neu erworbene Eigenſchaft muß in der Regel erſt bis zu einem ge-
wiſſen Grade befeſtigt oder conſtituirt ſein, ehe mit Wahrſcheinlichkeit
darauf zu rechnen iſt, daß ſich dieſelbe auch auf die Nachkommen-
ſchaft erblich uͤbertraͤgt. Es verhaͤlt ſich in dieſer Beziehung die Verer-
bung aͤhnlich wie die Anpaſſung. Je laͤngere Zeit hindurch eine neuer-
worbene Eigenſchaft bereits durch Vererbung uͤbertragen iſt, deſto ſiche-
rer wird ſie auch in den kommenden Generationen ſich erhalten. Wenn
alſo z. B. ein Gaͤrtner durch methodiſche Behandlung eine neue Aepfel-
ſorte gezuͤchtet hat, ſo kann er um ſo ſicherer darauf rechnen, die er-
wuͤnſchte Eigenthuͤmlichkeit dieſer Sorte zu erhalten, je laͤnger er dieſelbe
bereits vererbt hat. Daſſelbe zeigt ſich deutlich in der Vererbung von
Krankheiten. Je laͤnger bereits in einer Familie Schwindſucht oder
Wahnſinn erblich iſt, deſto tiefer gewurzelt iſt das Uebel, deſto wahrſchein-
licher werden auch alle folgenden Generationen davon ergriffen werden.

Endlich koͤnnen wir die Betrachtung der Erblichkeitserſcheinungen

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[170/0191] Befeſtigte oder conſtituirte Vererbung. Eigenſchaft, welche dem Beſitzer wegen der Abgrenzung des dortigen Gebiets durch Hecken ſehr vortheilhaft erſchien. Er kam alſo auf den Gedanken, dieſe Eigenſchaft auf die Nachkommen zu uͤbertragen, und in der That erzeugte er durch Kreuzung dieſes Schafbocks mit wohlge- bildeten Mutterſchafen eine ganze Raſſe von Schafen, die alle die Ei- genſchaften des Vaters hatten, kurze und gekruͤmmte Beine und einen langen Leib. Sie konnten alle nicht uͤber die Hecken ſpringen, und wur- den deshalb damals in Maſſachuſetts ſehr beliebt und weit verbreitet. Ein zweites Geſetz, welches ebenfalls unter die Reihe der pro- greſſiven oder fortſchreitenden Vererbung gehoͤrt, koͤnnen wir das Geſetz der befeſtigten oder conſtituirten Vererbung nennen, daſſelbe aͤußert ſich darin, daß Eigenſchaften, die von einem Organismus waͤhrend ſeines individuellen Lebens erworben wurden, um ſo ſicherer auf ſeine Nachkommen erblich uͤbertragen werden, je laͤngere Zeit hindurch die Urſachen jener Abaͤnderung einwirken, und daß dieſe Abaͤnderung um ſo ſicherer Eigenthum auch aller folgenden Generationen wird, je laͤngere Zeit hindurch auch auf dieſe die ab- aͤndernde Urſache einwirkt. Die durch Anpaſſung oder Abaͤnderung neu erworbene Eigenſchaft muß in der Regel erſt bis zu einem ge- wiſſen Grade befeſtigt oder conſtituirt ſein, ehe mit Wahrſcheinlichkeit darauf zu rechnen iſt, daß ſich dieſelbe auch auf die Nachkommen- ſchaft erblich uͤbertraͤgt. Es verhaͤlt ſich in dieſer Beziehung die Verer- bung aͤhnlich wie die Anpaſſung. Je laͤngere Zeit hindurch eine neuer- worbene Eigenſchaft bereits durch Vererbung uͤbertragen iſt, deſto ſiche- rer wird ſie auch in den kommenden Generationen ſich erhalten. Wenn alſo z. B. ein Gaͤrtner durch methodiſche Behandlung eine neue Aepfel- ſorte gezuͤchtet hat, ſo kann er um ſo ſicherer darauf rechnen, die er- wuͤnſchte Eigenthuͤmlichkeit dieſer Sorte zu erhalten, je laͤnger er dieſelbe bereits vererbt hat. Daſſelbe zeigt ſich deutlich in der Vererbung von Krankheiten. Je laͤnger bereits in einer Familie Schwindſucht oder Wahnſinn erblich iſt, deſto tiefer gewurzelt iſt das Uebel, deſto wahrſchein- licher werden auch alle folgenden Generationen davon ergriffen werden. Endlich koͤnnen wir die Betrachtung der Erblichkeitserſcheinungen

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/191>, abgerufen am 30.11.2024.