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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Geschlechtliche oder exuelle Vererbung. Secundäre Sexualcharaktere.
ihrer Form verschieden sind, durch absichtliche Verwilderung allmählich
auf die ursprüngliche Stammform zurückführen. Ebenso schlagen die
verwildernden Hunde, Pferde, Rinder u. s. w. oft mehr oder weni-
ger in die längst ausgestorbene Generation zurück. Es kann eine er-
staunlich lange Reihe von Generationen verfließen, ehe diese latente
Vererbungskraft erlischt.

Als ein drittes Gesetz der erhaltenden oder conservativen Verer-
bung können wir das Gesetz der geschlechtlichen oder sexu-
ellen Vererbung
bezeichnen, nach welchem jedes Geschlecht auf
seine Nachkommen desselben Geschlechts Eigenthümlichkeiten überträgt,
welche es nicht auf die Nachkommen des andern Geschlechts vererbt.
Die sogenannten "secundären Sexualcharaktere", welche in mehrfacher
Beziehung von außerordentlichem Jnteresse sind, liefern für dieses
Gesetz überall zahlreiche Beispiele. Als untergeordnete oder secundäre
Sexualcharaktere bezeichnet man solche Eigenthümlichkeiten des einen
der beiden Geschlechter, welche nicht unmittelbar mit den Geschlechts-
organen selbst zusammenhängen. Solche Charaktere, welche bloß dem
männlichen Geschlecht zukommen, sind z. B. das Geweih des Hirsches,
die Mähne des Löwen, der Sporn des Hahns. Hierher gehört auch
der menschliche Bart, eine Zierde, welche gewöhnlich dem weiblichen
Geschlecht versagt ist. Aehnliche Charaktere, welche bloß das weib-
liche Geschlecht auszeichnen, sind z. B. die entwickelten Brüste mit den
Milchdrüsen der weiblichen Säugethiere, der Beutel der weiblichen
Beutelthiere. Auch Körpergröße und Hautfärbung ist bei den weib-
lichen Thieren vieler Arten abweichend. Alle diese secundären Ge-
schlechtseigenschaften werden, ebenso wie die Geschlechtsorgane selbst,
vom männlichen Organismus nur auf den männlichen vererbt, und
nicht auf den weiblichen, und umgekehrt. Die entgegengesetzten That-
sachen sind Ausnahmen von der Regel.

Ein viertes hierher gehöriges Vererbungsgesetz steht in gewissem
Sinne im Widerspruch mit dem letzterwähnten, und beschränkt dasselbe,
nämlich das Gesetz der gemischten oder beiderseitigen
(amphigonen) Vererbung.
Dieses Gesetz sagt aus, daß ein

Geſchlechtliche oder exuelle Vererbung. Secundaͤre Sexualcharaktere.
ihrer Form verſchieden ſind, durch abſichtliche Verwilderung allmaͤhlich
auf die urſpruͤngliche Stammform zuruͤckfuͤhren. Ebenſo ſchlagen die
verwildernden Hunde, Pferde, Rinder u. ſ. w. oft mehr oder weni-
ger in die laͤngſt ausgeſtorbene Generation zuruͤck. Es kann eine er-
ſtaunlich lange Reihe von Generationen verfließen, ehe dieſe latente
Vererbungskraft erliſcht.

Als ein drittes Geſetz der erhaltenden oder conſervativen Verer-
bung koͤnnen wir das Geſetz der geſchlechtlichen oder ſexu-
ellen Vererbung
bezeichnen, nach welchem jedes Geſchlecht auf
ſeine Nachkommen deſſelben Geſchlechts Eigenthuͤmlichkeiten uͤbertraͤgt,
welche es nicht auf die Nachkommen des andern Geſchlechts vererbt.
Die ſogenannten „ſecundaͤren Sexualcharaktere“, welche in mehrfacher
Beziehung von außerordentlichem Jntereſſe ſind, liefern fuͤr dieſes
Geſetz uͤberall zahlreiche Beiſpiele. Als untergeordnete oder ſecundaͤre
Sexualcharaktere bezeichnet man ſolche Eigenthuͤmlichkeiten des einen
der beiden Geſchlechter, welche nicht unmittelbar mit den Geſchlechts-
organen ſelbſt zuſammenhaͤngen. Solche Charaktere, welche bloß dem
maͤnnlichen Geſchlecht zukommen, ſind z. B. das Geweih des Hirſches,
die Maͤhne des Loͤwen, der Sporn des Hahns. Hierher gehoͤrt auch
der menſchliche Bart, eine Zierde, welche gewoͤhnlich dem weiblichen
Geſchlecht verſagt iſt. Aehnliche Charaktere, welche bloß das weib-
liche Geſchlecht auszeichnen, ſind z. B. die entwickelten Bruͤſte mit den
Milchdruͤſen der weiblichen Saͤugethiere, der Beutel der weiblichen
Beutelthiere. Auch Koͤrpergroͤße und Hautfaͤrbung iſt bei den weib-
lichen Thieren vieler Arten abweichend. Alle dieſe ſecundaͤren Ge-
ſchlechtseigenſchaften werden, ebenſo wie die Geſchlechtsorgane ſelbſt,
vom maͤnnlichen Organismus nur auf den maͤnnlichen vererbt, und
nicht auf den weiblichen, und umgekehrt. Die entgegengeſetzten That-
ſachen ſind Ausnahmen von der Regel.

Ein viertes hierher gehoͤriges Vererbungsgeſetz ſteht in gewiſſem
Sinne im Widerſpruch mit dem letzterwaͤhnten, und beſchraͤnkt daſſelbe,
naͤmlich das Geſetz der gemiſchten oder beiderſeitigen
(amphigonen) Vererbung.
Dieſes Geſetz ſagt aus, daß ein

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[164/0185] Geſchlechtliche oder exuelle Vererbung. Secundaͤre Sexualcharaktere. ihrer Form verſchieden ſind, durch abſichtliche Verwilderung allmaͤhlich auf die urſpruͤngliche Stammform zuruͤckfuͤhren. Ebenſo ſchlagen die verwildernden Hunde, Pferde, Rinder u. ſ. w. oft mehr oder weni- ger in die laͤngſt ausgeſtorbene Generation zuruͤck. Es kann eine er- ſtaunlich lange Reihe von Generationen verfließen, ehe dieſe latente Vererbungskraft erliſcht. Als ein drittes Geſetz der erhaltenden oder conſervativen Verer- bung koͤnnen wir das Geſetz der geſchlechtlichen oder ſexu- ellen Vererbung bezeichnen, nach welchem jedes Geſchlecht auf ſeine Nachkommen deſſelben Geſchlechts Eigenthuͤmlichkeiten uͤbertraͤgt, welche es nicht auf die Nachkommen des andern Geſchlechts vererbt. Die ſogenannten „ſecundaͤren Sexualcharaktere“, welche in mehrfacher Beziehung von außerordentlichem Jntereſſe ſind, liefern fuͤr dieſes Geſetz uͤberall zahlreiche Beiſpiele. Als untergeordnete oder ſecundaͤre Sexualcharaktere bezeichnet man ſolche Eigenthuͤmlichkeiten des einen der beiden Geſchlechter, welche nicht unmittelbar mit den Geſchlechts- organen ſelbſt zuſammenhaͤngen. Solche Charaktere, welche bloß dem maͤnnlichen Geſchlecht zukommen, ſind z. B. das Geweih des Hirſches, die Maͤhne des Loͤwen, der Sporn des Hahns. Hierher gehoͤrt auch der menſchliche Bart, eine Zierde, welche gewoͤhnlich dem weiblichen Geſchlecht verſagt iſt. Aehnliche Charaktere, welche bloß das weib- liche Geſchlecht auszeichnen, ſind z. B. die entwickelten Bruͤſte mit den Milchdruͤſen der weiblichen Saͤugethiere, der Beutel der weiblichen Beutelthiere. Auch Koͤrpergroͤße und Hautfaͤrbung iſt bei den weib- lichen Thieren vieler Arten abweichend. Alle dieſe ſecundaͤren Ge- ſchlechtseigenſchaften werden, ebenſo wie die Geſchlechtsorgane ſelbſt, vom maͤnnlichen Organismus nur auf den maͤnnlichen vererbt, und nicht auf den weiblichen, und umgekehrt. Die entgegengeſetzten That- ſachen ſind Ausnahmen von der Regel. Ein viertes hierher gehoͤriges Vererbungsgeſetz ſteht in gewiſſem Sinne im Widerſpruch mit dem letzterwaͤhnten, und beſchraͤnkt daſſelbe, naͤmlich das Geſetz der gemiſchten oder beiderſeitigen (amphigonen) Vererbung. Dieſes Geſetz ſagt aus, daß ein

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/185>, abgerufen am 26.11.2024.