Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.Rückschlag oder Atavismus. Affenmenschen oder Mikrocephalen. den Pflanzen kann man den Rückschlag sehr häufig beobachten. Siekennen wohl Alle das wilde gelbe Löwenmaul (Linaria vulgaris), eine auf unsern Aeckern und Wegen sehr gemeine Pflanze. Die rachen- förmige gelbe Blüthe derselben enthält zwei lange und zwei kurze Staubfäden. Bisweilen aber erscheint eine einzelne Blüthe (Peloria), welche trichterförmig und ganz regelmäßig aus fünf einzelnen gleichen Abschnitten zusammengesetzt ist, mit fünf gleichartigen Staubfäden. Diese Peloria können wir nur erklären als einen Rückschlag in die längst entschwundene uralte gemeinsame Stammform aller derjenigen Pflanzen, welche gleich dem Löwenmaul eine rachenförmige zweilippige Blüthe mit zwei langen und zwei kurzen Staubfäden besitzen. Jene Stammform besaß gleich der Peloria eine regelmäßige fünftheilige Blüthe mit fünf gleichen, später erst allmählich ungleich werdenden Staubfäden (Vergl. oben S. 12, 14). Alle solche Rückschläge sind unter das Gesetz der unterbrochenen oder latenten Vererbung zu bringen[,] wenn gleich die Zahl der Generationen, die übersprungen wird, ganz ungeheuer groß sein kann. Das ist auch bei den Rückschlägen des Menschen der Fall, z. B. bei den kürzlich von Carl Vogt unter- suchten Affenmenschen (Microcephali). Diese Mißgeburten, von denen man schon gegen fünfzig genauer kennt, sind Hemmungsbildun- gen, bei denen zwar der Körper sonst gut entwickelt ist, aber das Ge- hirn und der Gehirnschädel auf der niederen Stufe unserer uralten Voreltern, der Affen, stehen geblieben ist. Demgemäß sind auch die Seelenerscheinungen der Affenmenschen, welche von ganz gesunden Eltern erzeugt sind, nicht denen der Menschen, sondern der Affen gleich. Es sind, zum Theil wenigstens, Rückschläge in die längst aus- gestorbene affenartige Stammform des Menschen. Wenn Culturpflanzen oder Hausthiere verwildern, wenn sie den 11 *
Ruͤckſchlag oder Atavismus. Affenmenſchen oder Mikrocephalen. den Pflanzen kann man den Ruͤckſchlag ſehr haͤufig beobachten. Siekennen wohl Alle das wilde gelbe Loͤwenmaul (Linaria vulgaris), eine auf unſern Aeckern und Wegen ſehr gemeine Pflanze. Die rachen- foͤrmige gelbe Bluͤthe derſelben enthaͤlt zwei lange und zwei kurze Staubfaͤden. Bisweilen aber erſcheint eine einzelne Bluͤthe (Peloria), welche trichterfoͤrmig und ganz regelmaͤßig aus fuͤnf einzelnen gleichen Abſchnitten zuſammengeſetzt iſt, mit fuͤnf gleichartigen Staubfaͤden. Dieſe Peloria koͤnnen wir nur erklaͤren als einen Ruͤckſchlag in die laͤngſt entſchwundene uralte gemeinſame Stammform aller derjenigen Pflanzen, welche gleich dem Loͤwenmaul eine rachenfoͤrmige zweilippige Bluͤthe mit zwei langen und zwei kurzen Staubfaͤden beſitzen. Jene Stammform beſaß gleich der Peloria eine regelmaͤßige fuͤnftheilige Bluͤthe mit fuͤnf gleichen, ſpaͤter erſt allmaͤhlich ungleich werdenden Staubfaͤden (Vergl. oben S. 12, 14). Alle ſolche Ruͤckſchlaͤge ſind unter das Geſetz der unterbrochenen oder latenten Vererbung zu bringen[,] wenn gleich die Zahl der Generationen, die uͤberſprungen wird, ganz ungeheuer groß ſein kann. Das iſt auch bei den Ruͤckſchlaͤgen des Menſchen der Fall, z. B. bei den kuͤrzlich von Carl Vogt unter- ſuchten Affenmenſchen (Microcephali). Dieſe Mißgeburten, von denen man ſchon gegen fuͤnfzig genauer kennt, ſind Hemmungsbildun- gen, bei denen zwar der Koͤrper ſonſt gut entwickelt iſt, aber das Ge- hirn und der Gehirnſchaͤdel auf der niederen Stufe unſerer uralten Voreltern, der Affen, ſtehen geblieben iſt. Demgemaͤß ſind auch die Seelenerſcheinungen der Affenmenſchen, welche von ganz geſunden Eltern erzeugt ſind, nicht denen der Menſchen, ſondern der Affen gleich. Es ſind, zum Theil wenigſtens, Ruͤckſchlaͤge in die laͤngſt aus- geſtorbene affenartige Stammform des Menſchen. Wenn Culturpflanzen oder Hausthiere verwildern, wenn ſie den 11 *
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Ruͤckſchlag oder Atavismus. Affenmenſchen oder Mikrocephalen.
den Pflanzen kann man den Ruͤckſchlag ſehr haͤufig beobachten. Sie
kennen wohl Alle das wilde gelbe Loͤwenmaul (Linaria vulgaris),
eine auf unſern Aeckern und Wegen ſehr gemeine Pflanze. Die rachen-
foͤrmige gelbe Bluͤthe derſelben enthaͤlt zwei lange und zwei kurze
Staubfaͤden. Bisweilen aber erſcheint eine einzelne Bluͤthe (Peloria),
welche trichterfoͤrmig und ganz regelmaͤßig aus fuͤnf einzelnen gleichen
Abſchnitten zuſammengeſetzt iſt, mit fuͤnf gleichartigen Staubfaͤden.
Dieſe Peloria koͤnnen wir nur erklaͤren als einen Ruͤckſchlag in die
laͤngſt entſchwundene uralte gemeinſame Stammform aller derjenigen
Pflanzen, welche gleich dem Loͤwenmaul eine rachenfoͤrmige zweilippige
Bluͤthe mit zwei langen und zwei kurzen Staubfaͤden beſitzen. Jene
Stammform beſaß gleich der Peloria eine regelmaͤßige fuͤnftheilige
Bluͤthe mit fuͤnf gleichen, ſpaͤter erſt allmaͤhlich ungleich werdenden
Staubfaͤden (Vergl. oben S. 12, 14). Alle ſolche Ruͤckſchlaͤge ſind
unter das Geſetz der unterbrochenen oder latenten Vererbung zu bringen,
wenn gleich die Zahl der Generationen, die uͤberſprungen wird, ganz
ungeheuer groß ſein kann. Das iſt auch bei den Ruͤckſchlaͤgen des
Menſchen der Fall, z. B. bei den kuͤrzlich von Carl Vogt unter-
ſuchten Affenmenſchen (Microcephali). Dieſe Mißgeburten, von
denen man ſchon gegen fuͤnfzig genauer kennt, ſind Hemmungsbildun-
gen, bei denen zwar der Koͤrper ſonſt gut entwickelt iſt, aber das Ge-
hirn und der Gehirnſchaͤdel auf der niederen Stufe unſerer uralten
Voreltern, der Affen, ſtehen geblieben iſt. Demgemaͤß ſind auch die
Seelenerſcheinungen der Affenmenſchen, welche von ganz geſunden
Eltern erzeugt ſind, nicht denen der Menſchen, ſondern der Affen
gleich. Es ſind, zum Theil wenigſtens, Ruͤckſchlaͤge in die laͤngſt aus-
geſtorbene affenartige Stammform des Menſchen.
Wenn Culturpflanzen oder Hausthiere verwildern, wenn ſie den
Bedingungen des Culturlebens entzogen werden, ſo gehen ſie Ver-
aͤnderungen ein, welche nicht als bloße Anpaſſung an die neuerwor-
bene Lebensweiſe erſcheinen, ſondern als Ruͤckſchlag in die uralte
Stammform, aus welcher die Culturformen erzogen worden ſind.
So kann man die verſchiedenen Sorten des Kohls, die ungemein in
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