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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Materielle Vererbung geistiger Eigenschaften.
von der hohen Wichtigkeit erblicher Vorzüge, welche gewissen Familien
beiwohnten, und von denen man voraussetzte, daß sie immer wieder
von den Eltern auf die Nachkommen übertragen werden würden. Die
Einrichtung des erblichen Adels und der erblichen Monarchie ist zwei-
felsohne auf die Vorstellung einer solchen Vererbung besonderer Tu-
genden zurückzuführen. Allerdings sind es leider nicht nur die Tu-
genden, sondern auch die Laster, welche vererbt werden, und wenn Sie
in der Weltgeschichte die verschiedenen Jndividuen der einzelnen Dy-
nastien vergleichen, so werden Sie zwar überall eine große Anzahl von
Beweisen für die Erblichkeit auffinden können, aber weniger für die
Erblichkeit der Tugenden, als der entgegengesetzten Eigenschaften.
Denken Sie z. B. nur an die römischen Kaiser, an die Julier und
die Claudier, oder an die Bourbonen in Frankreich, Spanien und
Jtalien!

Jn der That dürfte kaum irgendwo eine solche Fülle von schla-
genden Beispielen für die merkwürdige Vererbung der feinsten körper-
lichen und geistigen Züge gefunden werden, als in der Geschichte der
regierenden Häuser in den erblichen Monarchien. Ganz besonders gilt
dies mit Bezug auf die vorher erwähnten Geisteskrankheiten. Gerade
in regierenden Familien sind Geisteskrankheiten in ungewöhnlichem
Maße erblich. Schon der berühmte Jrrenarzt Esquirol wies nach,
daß das Verhältniß der Geisteskranken in den regierenden Häusern
gegenüber denjenigen in der gewöhnlichen Bevölkerung sich verhält,
wie 60 : 1, d. h. daß Geisteskrankheit in den bevorzugten Familien
der regierenden Häuser sechzig mal so häufig vorkommt, als in der
gewöhnlichen Menschheit. Würde eine gleiche genaue Statistik auch
für den erblichen Adel durchgeführt, so dürfte sich leicht herausstellen,
daß auch dieser ein ungleich größeres Contingent von Geisteskranken
stellt, als die gemeine, nichtadelige Menschheit. Diese Erscheinung
wird uns kaum mehr wundern, wenn wir bedenken, welchen Nach-
theil sich diese privilegirten Kasten selbst durch ihre unnatürliche einsei-
tige Erziehung und durch ihre künstliche Absperrung von der übrigen
Menschheit zufügen. Es werden dadurch manche dunkle Schatten-

Materielle Vererbung geiſtiger Eigenſchaften.
von der hohen Wichtigkeit erblicher Vorzuͤge, welche gewiſſen Familien
beiwohnten, und von denen man vorausſetzte, daß ſie immer wieder
von den Eltern auf die Nachkommen uͤbertragen werden wuͤrden. Die
Einrichtung des erblichen Adels und der erblichen Monarchie iſt zwei-
felsohne auf die Vorſtellung einer ſolchen Vererbung beſonderer Tu-
genden zuruͤckzufuͤhren. Allerdings ſind es leider nicht nur die Tu-
genden, ſondern auch die Laſter, welche vererbt werden, und wenn Sie
in der Weltgeſchichte die verſchiedenen Jndividuen der einzelnen Dy-
naſtien vergleichen, ſo werden Sie zwar uͤberall eine große Anzahl von
Beweiſen fuͤr die Erblichkeit auffinden koͤnnen, aber weniger fuͤr die
Erblichkeit der Tugenden, als der entgegengeſetzten Eigenſchaften.
Denken Sie z. B. nur an die roͤmiſchen Kaiſer, an die Julier und
die Claudier, oder an die Bourbonen in Frankreich, Spanien und
Jtalien!

Jn der That duͤrfte kaum irgendwo eine ſolche Fuͤlle von ſchla-
genden Beiſpielen fuͤr die merkwuͤrdige Vererbung der feinſten koͤrper-
lichen und geiſtigen Zuͤge gefunden werden, als in der Geſchichte der
regierenden Haͤuſer in den erblichen Monarchien. Ganz beſonders gilt
dies mit Bezug auf die vorher erwaͤhnten Geiſteskrankheiten. Gerade
in regierenden Familien ſind Geiſteskrankheiten in ungewoͤhnlichem
Maße erblich. Schon der beruͤhmte Jrrenarzt Esquirol wies nach,
daß das Verhaͤltniß der Geiſteskranken in den regierenden Haͤuſern
gegenuͤber denjenigen in der gewoͤhnlichen Bevoͤlkerung ſich verhaͤlt,
wie 60 : 1, d. h. daß Geiſteskrankheit in den bevorzugten Familien
der regierenden Haͤuſer ſechzig mal ſo haͤufig vorkommt, als in der
gewoͤhnlichen Menſchheit. Wuͤrde eine gleiche genaue Statiſtik auch
fuͤr den erblichen Adel durchgefuͤhrt, ſo duͤrfte ſich leicht herausſtellen,
daß auch dieſer ein ungleich groͤßeres Contingent von Geiſteskranken
ſtellt, als die gemeine, nichtadelige Menſchheit. Dieſe Erſcheinung
wird uns kaum mehr wundern, wenn wir bedenken, welchen Nach-
theil ſich dieſe privilegirten Kaſten ſelbſt durch ihre unnatuͤrliche einſei-
tige Erziehung und durch ihre kuͤnſtliche Abſperrung von der uͤbrigen
Menſchheit zufuͤgen. Es werden dadurch manche dunkle Schatten-

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[139/0160] Materielle Vererbung geiſtiger Eigenſchaften. von der hohen Wichtigkeit erblicher Vorzuͤge, welche gewiſſen Familien beiwohnten, und von denen man vorausſetzte, daß ſie immer wieder von den Eltern auf die Nachkommen uͤbertragen werden wuͤrden. Die Einrichtung des erblichen Adels und der erblichen Monarchie iſt zwei- felsohne auf die Vorſtellung einer ſolchen Vererbung beſonderer Tu- genden zuruͤckzufuͤhren. Allerdings ſind es leider nicht nur die Tu- genden, ſondern auch die Laſter, welche vererbt werden, und wenn Sie in der Weltgeſchichte die verſchiedenen Jndividuen der einzelnen Dy- naſtien vergleichen, ſo werden Sie zwar uͤberall eine große Anzahl von Beweiſen fuͤr die Erblichkeit auffinden koͤnnen, aber weniger fuͤr die Erblichkeit der Tugenden, als der entgegengeſetzten Eigenſchaften. Denken Sie z. B. nur an die roͤmiſchen Kaiſer, an die Julier und die Claudier, oder an die Bourbonen in Frankreich, Spanien und Jtalien! Jn der That duͤrfte kaum irgendwo eine ſolche Fuͤlle von ſchla- genden Beiſpielen fuͤr die merkwuͤrdige Vererbung der feinſten koͤrper- lichen und geiſtigen Zuͤge gefunden werden, als in der Geſchichte der regierenden Haͤuſer in den erblichen Monarchien. Ganz beſonders gilt dies mit Bezug auf die vorher erwaͤhnten Geiſteskrankheiten. Gerade in regierenden Familien ſind Geiſteskrankheiten in ungewoͤhnlichem Maße erblich. Schon der beruͤhmte Jrrenarzt Esquirol wies nach, daß das Verhaͤltniß der Geiſteskranken in den regierenden Haͤuſern gegenuͤber denjenigen in der gewoͤhnlichen Bevoͤlkerung ſich verhaͤlt, wie 60 : 1, d. h. daß Geiſteskrankheit in den bevorzugten Familien der regierenden Haͤuſer ſechzig mal ſo haͤufig vorkommt, als in der gewoͤhnlichen Menſchheit. Wuͤrde eine gleiche genaue Statiſtik auch fuͤr den erblichen Adel durchgefuͤhrt, ſo duͤrfte ſich leicht herausſtellen, daß auch dieſer ein ungleich groͤßeres Contingent von Geiſteskranken ſtellt, als die gemeine, nichtadelige Menſchheit. Dieſe Erſcheinung wird uns kaum mehr wundern, wenn wir bedenken, welchen Nach- theil ſich dieſe privilegirten Kaſten ſelbſt durch ihre unnatuͤrliche einſei- tige Erziehung und durch ihre kuͤnſtliche Abſperrung von der uͤbrigen Menſchheit zufuͤgen. Es werden dadurch manche dunkle Schatten-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/160>, abgerufen am 23.11.2024.