zahlreiche Unterschiede in der Zahl der Aeste und Blätter zeigen, fast immer diese Unterschiede leicht wahrnehmen. Aber bei den meisten Thieren ist dies nicht der Fall, namentlich bei den niederen Thieren. Es liegt jedoch kein Grund vor, bloß denjenigen Organismen eine individuelle Verschiedenheit zuzuschreiben, bei denen wir sie sogleich erkennen können. Vielmehr können wir dieselbe mit voller Sicher- heit als allgemeine Eigenschaft aller Organismen annehmen, und wir können dies um so mehr, da wir im Stande sind, die Veränderlichkeit der Jndividuen zurückzuführen auf die mechanischen Verhältnisse der Ernährung, da wir zeigen können, daß wir durch Beeinflussung der Ernährung im Stande sind, auffallende individuelle Unterschiede da hervorzubringen, wo sie unter nicht veränderten Ernährungsver- hältnissen nicht wahrzunehmen sein würden.
Ebenso nun, wie wir die Veränderlichkeit oder die Anpassungs- fähigkeit in ursächlichem Zusammenhang mit den allgemeinen Ernäh- rungsverhältnissen der Thiere und Pflanzen sehen, so finden wir die zweite fundamentale Lebenserscheinung, mit der wir es hier zu thun haben, nämlich die Vererbungsfähigkeit oder Erblichkeit, in unmittelbarem Zusammenhang mit den Erscheinungen der Fort- pflanzung. Das zweite, was der Landwirth und der Gärtner bei der künstlichen Züchtung thut, nachdem er ausgesucht, also die Ver- änderlichkeit angewandt hat, ist, daß er die veränderten Formen fest- zuhalten und auszubilden sucht durch die Vererbung. Er geht aus von der allgemeinen Thatsache, daß die Kinder ihren Eltern ähnlich sind: "Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm." Diese Erscheinung der Erblichkeit ist bisher in sehr geringem Maaße wissenschaftlich unter- sucht worden, was zum Theil daran liegen mag, daß die Erscheinung eine zu alltägliche ist. Jedermann findet es natürlich, daß eine jede Art ihres Gleichen erzeugt, daß nicht plötzlich ein Pferd eine Gans oder eine Gans einen Frosch erzeugt. Man ist gewöhnt, diese alltäg- lichen Vorgänge der Erblichkeit als selbstverständlich anzusehen. Nun ist aber diese Erscheinung nicht so selbstverständlich einfach, wie sie auf den ersten Blick erscheint und namentlich wird sehr häufig bei der Be-
Erblichkeit oder Vererbungsfaͤhigkeit.
zahlreiche Unterſchiede in der Zahl der Aeſte und Blaͤtter zeigen, faſt immer dieſe Unterſchiede leicht wahrnehmen. Aber bei den meiſten Thieren iſt dies nicht der Fall, namentlich bei den niederen Thieren. Es liegt jedoch kein Grund vor, bloß denjenigen Organismen eine individuelle Verſchiedenheit zuzuſchreiben, bei denen wir ſie ſogleich erkennen koͤnnen. Vielmehr koͤnnen wir dieſelbe mit voller Sicher- heit als allgemeine Eigenſchaft aller Organismen annehmen, und wir koͤnnen dies um ſo mehr, da wir im Stande ſind, die Veraͤnderlichkeit der Jndividuen zuruͤckzufuͤhren auf die mechaniſchen Verhaͤltniſſe der Ernaͤhrung, da wir zeigen koͤnnen, daß wir durch Beeinfluſſung der Ernaͤhrung im Stande ſind, auffallende individuelle Unterſchiede da hervorzubringen, wo ſie unter nicht veraͤnderten Ernaͤhrungsver- haͤltniſſen nicht wahrzunehmen ſein wuͤrden.
Ebenſo nun, wie wir die Veraͤnderlichkeit oder die Anpaſſungs- faͤhigkeit in urſaͤchlichem Zuſammenhang mit den allgemeinen Ernaͤh- rungsverhaͤltniſſen der Thiere und Pflanzen ſehen, ſo finden wir die zweite fundamentale Lebenserſcheinung, mit der wir es hier zu thun haben, naͤmlich die Vererbungsfaͤhigkeit oder Erblichkeit, in unmittelbarem Zuſammenhang mit den Erſcheinungen der Fort- pflanzung. Das zweite, was der Landwirth und der Gaͤrtner bei der kuͤnſtlichen Zuͤchtung thut, nachdem er ausgeſucht, alſo die Ver- aͤnderlichkeit angewandt hat, iſt, daß er die veraͤnderten Formen feſt- zuhalten und auszubilden ſucht durch die Vererbung. Er geht aus von der allgemeinen Thatſache, daß die Kinder ihren Eltern aͤhnlich ſind: „Der Apfel faͤllt nicht weit vom Stamm.“ Dieſe Erſcheinung der Erblichkeit iſt bisher in ſehr geringem Maaße wiſſenſchaftlich unter- ſucht worden, was zum Theil daran liegen mag, daß die Erſcheinung eine zu alltaͤgliche iſt. Jedermann findet es natuͤrlich, daß eine jede Art ihres Gleichen erzeugt, daß nicht ploͤtzlich ein Pferd eine Gans oder eine Gans einen Froſch erzeugt. Man iſt gewoͤhnt, dieſe alltaͤg- lichen Vorgaͤnge der Erblichkeit als ſelbſtverſtaͤndlich anzuſehen. Nun iſt aber dieſe Erſcheinung nicht ſo ſelbſtverſtaͤndlich einfach, wie ſie auf den erſten Blick erſcheint und namentlich wird ſehr haͤufig bei der Be-
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Erblichkeit oder Vererbungsfaͤhigkeit.
zahlreiche Unterſchiede in der Zahl der Aeſte und Blaͤtter zeigen, faſt
immer dieſe Unterſchiede leicht wahrnehmen. Aber bei den meiſten
Thieren iſt dies nicht der Fall, namentlich bei den niederen Thieren.
Es liegt jedoch kein Grund vor, bloß denjenigen Organismen eine
individuelle Verſchiedenheit zuzuſchreiben, bei denen wir ſie ſogleich
erkennen koͤnnen. Vielmehr koͤnnen wir dieſelbe mit voller Sicher-
heit als allgemeine Eigenſchaft aller Organismen annehmen, und wir
koͤnnen dies um ſo mehr, da wir im Stande ſind, die Veraͤnderlichkeit
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Ernaͤhrung, da wir zeigen koͤnnen, daß wir durch Beeinfluſſung
der Ernaͤhrung im Stande ſind, auffallende individuelle Unterſchiede
da hervorzubringen, wo ſie unter nicht veraͤnderten Ernaͤhrungsver-
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Ebenſo nun, wie wir die Veraͤnderlichkeit oder die Anpaſſungs-
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rungsverhaͤltniſſen der Thiere und Pflanzen ſehen, ſo finden wir die
zweite fundamentale Lebenserſcheinung, mit der wir es hier zu thun
haben, naͤmlich die Vererbungsfaͤhigkeit oder Erblichkeit,
in unmittelbarem Zuſammenhang mit den Erſcheinungen der Fort-
pflanzung. Das zweite, was der Landwirth und der Gaͤrtner bei
der kuͤnſtlichen Zuͤchtung thut, nachdem er ausgeſucht, alſo die Ver-
aͤnderlichkeit angewandt hat, iſt, daß er die veraͤnderten Formen feſt-
zuhalten und auszubilden ſucht durch die Vererbung. Er geht aus
von der allgemeinen Thatſache, daß die Kinder ihren Eltern aͤhnlich
ſind: „Der Apfel faͤllt nicht weit vom Stamm.“ Dieſe Erſcheinung
der Erblichkeit iſt bisher in ſehr geringem Maaße wiſſenſchaftlich unter-
ſucht worden, was zum Theil daran liegen mag, daß die Erſcheinung
eine zu alltaͤgliche iſt. Jedermann findet es natuͤrlich, daß eine jede
Art ihres Gleichen erzeugt, daß nicht ploͤtzlich ein Pferd eine Gans
oder eine Gans einen Froſch erzeugt. Man iſt gewoͤhnt, dieſe alltaͤg-
lichen Vorgaͤnge der Erblichkeit als ſelbſtverſtaͤndlich anzuſehen. Nun
iſt aber dieſe Erſcheinung nicht ſo ſelbſtverſtaͤndlich einfach, wie ſie auf
den erſten Blick erſcheint und namentlich wird ſehr haͤufig bei der Be-
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/144>, abgerufen am 04.07.2024.
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