Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.Veränderlichkeit oder Anpassungsfähigkeit. tigkeiten der Fortpflanzung und Ernährung auf das Jnnigstezusammenhängen. Diese beiden Grundeigenschaften sind die Erblich- keit oder die Fähigkeit der Vererbung und die Veränderlich- keit oder die Fähigkeit der Anpassung. Der Züchter geht aus von der Thatsache, daß alle Jndividuen einer und derselben Art verschie- den sind, wenn auch in sehr geringem Grade, eine Thatsache, die so- wohl von den Organismen im wilden wie im Culturzustande gilt. Wenn Sie sich in einem Walde umsehen, der nur aus einer einzigen Baumart, z. B. Buche, besteht, werden Sie ganz gewiß im ganzen Walde nicht zwei Bäume dieser Art finden, die absolut gleich sind, die in der Form der Verästelung, in der Zahl der Zweige und Blätter sich vollkommen gleichen. Es finden sich individuelle Unterschiede überall, gerade so wie bei dem Menschen. Es giebt nicht zwei Men- schen, welche absolut identisch sind, vollkommen gleich in Größe, Ge- sichtsbildung, Zahl der Haare, Temperament, Charakter u. s. w. Ganz dasselbe gilt aber auch von den Einzelwesen aller verschiedenen Thier- und Pflanzenarten. Bei den meisten Organismen erscheinen allerdings die Unterschiede für den Laien sehr geringfügig. Es kommt aber hierbei wesentlich an auf die Uebung in der Erkenntniß dieser oft sehr feinen Formcharaktere. Ein Schafhirt z. B. kennt in seiner Herde jedes einzelne Jndividuum bloß durch genaue Beobachtung der Eigen- schaften, während ein Laie oft nicht im Stande ist, die verschiedenen Jndividuen einer und derselben Herde zu unterscheiden. Die That- sache der individuellen Verschiedenheit ist die äußerst wichtige Grund- lage, auf welche sich das ganze Züchtungsvermögen des Menschen gründet. Wenn nicht jene individuellen Unterschiede wären, so könnte er nicht aus einer und derselben Stammform eine Masse verschiede- ner Spielarten oder Rassen erziehen. Es ist von vornherein festzuhal- ten, daß diese Erscheinung eine ganz allgemeine ist, und daß wir noth- wendig dieselbe auch da voraussetzen müssen, wo wir mit unseren sinnlichen Hülfsmitteln nicht im Stande sind, die Unterschiede zu er- kennen. Wir können bei den höheren Pflanzen, bei den Phaneroga- men oder Blüthenpflanzen, wo die einzelnen individuellen Stöcke so Veraͤnderlichkeit oder Anpaſſungsfaͤhigkeit. tigkeiten der Fortpflanzung und Ernaͤhrung auf das Jnnigſtezuſammenhaͤngen. Dieſe beiden Grundeigenſchaften ſind die Erblich- keit oder die Faͤhigkeit der Vererbung und die Veraͤnderlich- keit oder die Faͤhigkeit der Anpaſſung. Der Zuͤchter geht aus von der Thatſache, daß alle Jndividuen einer und derſelben Art verſchie- den ſind, wenn auch in ſehr geringem Grade, eine Thatſache, die ſo- wohl von den Organismen im wilden wie im Culturzuſtande gilt. Wenn Sie ſich in einem Walde umſehen, der nur aus einer einzigen Baumart, z. B. Buche, beſteht, werden Sie ganz gewiß im ganzen Walde nicht zwei Baͤume dieſer Art finden, die abſolut gleich ſind, die in der Form der Veraͤſtelung, in der Zahl der Zweige und Blaͤtter ſich vollkommen gleichen. Es finden ſich individuelle Unterſchiede uͤberall, gerade ſo wie bei dem Menſchen. Es giebt nicht zwei Men- ſchen, welche abſolut identiſch ſind, vollkommen gleich in Groͤße, Ge- ſichtsbildung, Zahl der Haare, Temperament, Charakter u. ſ. w. Ganz daſſelbe gilt aber auch von den Einzelweſen aller verſchiedenen Thier- und Pflanzenarten. Bei den meiſten Organismen erſcheinen allerdings die Unterſchiede fuͤr den Laien ſehr geringfuͤgig. Es kommt aber hierbei weſentlich an auf die Uebung in der Erkenntniß dieſer oft ſehr feinen Formcharaktere. Ein Schafhirt z. B. kennt in ſeiner Herde jedes einzelne Jndividuum bloß durch genaue Beobachtung der Eigen- ſchaften, waͤhrend ein Laie oft nicht im Stande iſt, die verſchiedenen Jndividuen einer und derſelben Herde zu unterſcheiden. Die That- ſache der individuellen Verſchiedenheit iſt die aͤußerſt wichtige Grund- lage, auf welche ſich das ganze Zuͤchtungsvermoͤgen des Menſchen gruͤndet. Wenn nicht jene individuellen Unterſchiede waͤren, ſo koͤnnte er nicht aus einer und derſelben Stammform eine Maſſe verſchiede- ner Spielarten oder Raſſen erziehen. Es iſt von vornherein feſtzuhal- ten, daß dieſe Erſcheinung eine ganz allgemeine iſt, und daß wir noth- wendig dieſelbe auch da vorausſetzen muͤſſen, wo wir mit unſeren ſinnlichen Huͤlfsmitteln nicht im Stande ſind, die Unterſchiede zu er- kennen. Wir koͤnnen bei den hoͤheren Pflanzen, bei den Phaneroga- men oder Bluͤthenpflanzen, wo die einzelnen individuellen Stoͤcke ſo <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0143" n="122"/><fw place="top" type="header">Veraͤnderlichkeit oder Anpaſſungsfaͤhigkeit.</fw><lb/> tigkeiten der <hi rendition="#g">Fortpflanzung und Ernaͤhrung</hi> auf das Jnnigſte<lb/> zuſammenhaͤngen. Dieſe beiden Grundeigenſchaften ſind die <hi rendition="#g">Erblich-<lb/> keit</hi> oder die Faͤhigkeit der <hi rendition="#g">Vererbung</hi> und die <hi rendition="#g">Veraͤnderlich-<lb/> keit</hi> oder die Faͤhigkeit der <hi rendition="#g">Anpaſſung.</hi> Der Zuͤchter geht aus von<lb/> der Thatſache, daß alle Jndividuen einer und derſelben Art verſchie-<lb/> den ſind, wenn auch in ſehr geringem Grade, eine Thatſache, die ſo-<lb/> wohl von den Organismen im wilden wie im Culturzuſtande gilt.<lb/> Wenn Sie ſich in einem Walde umſehen, der nur aus einer einzigen<lb/> Baumart, z. B. 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Veraͤnderlichkeit oder Anpaſſungsfaͤhigkeit.
tigkeiten der Fortpflanzung und Ernaͤhrung auf das Jnnigſte
zuſammenhaͤngen. Dieſe beiden Grundeigenſchaften ſind die Erblich-
keit oder die Faͤhigkeit der Vererbung und die Veraͤnderlich-
keit oder die Faͤhigkeit der Anpaſſung. Der Zuͤchter geht aus von
der Thatſache, daß alle Jndividuen einer und derſelben Art verſchie-
den ſind, wenn auch in ſehr geringem Grade, eine Thatſache, die ſo-
wohl von den Organismen im wilden wie im Culturzuſtande gilt.
Wenn Sie ſich in einem Walde umſehen, der nur aus einer einzigen
Baumart, z. B. Buche, beſteht, werden Sie ganz gewiß im ganzen
Walde nicht zwei Baͤume dieſer Art finden, die abſolut gleich ſind,
die in der Form der Veraͤſtelung, in der Zahl der Zweige und Blaͤtter
ſich vollkommen gleichen. Es finden ſich individuelle Unterſchiede
uͤberall, gerade ſo wie bei dem Menſchen. Es giebt nicht zwei Men-
ſchen, welche abſolut identiſch ſind, vollkommen gleich in Groͤße, Ge-
ſichtsbildung, Zahl der Haare, Temperament, Charakter u. ſ. w.
Ganz daſſelbe gilt aber auch von den Einzelweſen aller verſchiedenen
Thier- und Pflanzenarten. Bei den meiſten Organismen erſcheinen
allerdings die Unterſchiede fuͤr den Laien ſehr geringfuͤgig. Es kommt
aber hierbei weſentlich an auf die Uebung in der Erkenntniß dieſer oft
ſehr feinen Formcharaktere. Ein Schafhirt z. B. kennt in ſeiner Herde
jedes einzelne Jndividuum bloß durch genaue Beobachtung der Eigen-
ſchaften, waͤhrend ein Laie oft nicht im Stande iſt, die verſchiedenen
Jndividuen einer und derſelben Herde zu unterſcheiden. Die That-
ſache der individuellen Verſchiedenheit iſt die aͤußerſt wichtige Grund-
lage, auf welche ſich das ganze Zuͤchtungsvermoͤgen des Menſchen
gruͤndet. Wenn nicht jene individuellen Unterſchiede waͤren, ſo koͤnnte
er nicht aus einer und derſelben Stammform eine Maſſe verſchiede-
ner Spielarten oder Raſſen erziehen. Es iſt von vornherein feſtzuhal-
ten, daß dieſe Erſcheinung eine ganz allgemeine iſt, und daß wir noth-
wendig dieſelbe auch da vorausſetzen muͤſſen, wo wir mit unſeren
ſinnlichen Huͤlfsmitteln nicht im Stande ſind, die Unterſchiede zu er-
kennen. Wir koͤnnen bei den hoͤheren Pflanzen, bei den Phaneroga-
men oder Bluͤthenpflanzen, wo die einzelnen individuellen Stoͤcke ſo
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