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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Vorgang der künstlichen Züchtung.
Form von der ursprünglichen Stammform in weit höherem Grade
abweichen kann, als zwei sogenannte gute Arten im Naturzustande
thun. Die Züchtungskunst ist jetzt so weit gediehen, daß der Mensch
oft willkürlich bestimmte Eigenthümlichkeiten bei den cultivirten Arten
der Thiere und Pflanzen erzeugen kann. Man kann an die geübte-
sten Gärtner und Landwirthe bestimmte Aufträge geben, und z. B.
sagen: Jch wünsche diese Pflanzenart in der und der Farbe mit der
und der Zeichnung zu haben. Wo die Züchtung so vervollkommnet
ist, wie in England, sind die Gärtner und Landwirthe im Stande,
innerhalb einer bestimmten Zeitdauer, nach Verlauf einer Anzahl von
Generationen, das verlangte Resultat auf Bestellung zu liefern. Einer
der erfahrensten englischen Züchter, Sir John Sebright, konnte
sagen "er wolle eine ihm aufgegebene Feder in drei Jahren hervor-
bringen, er bedürfe aber sechs Jahre, um eine gewünschte Form des
Kopfes und Schnabels zu erlangen". Bei der Zucht der Merinoschafe
in Sachsen werden die Thiere dreimal wiederholt neben einander auf
Tische gelegt und auf das Sorgfältigste vergleichend studirt. Jedes-
mal werden nur die besten Schafe, mit der feinsten Wolle ausgelesen,
so daß zuletzt von einer großen Menge nur einzelne wenige, aber ganz
auserlesen feine Thiere übrig bleiben. Nur diese letzten werden zur
Nachzucht verwandt. Es sind also, wie Sie sehen, ungemein einfache
Ursachen, mittelst welcher die künstliche Züchtung zuletzt große Wirkun-
gen hervorbringt, und diese großen Wirkungen werden nur erzielt
durch Summirung der einzelnen an sich sehr unbedeutenden Unter-
schiede, die durch fortwährend wiederholte Auslese oder Selection
vergrößert werden.

Ehe wir nun zur Vergleichung dieser künstlichen Züchtung mit
der natürlichen übergehen, wollen wir uns klar machen, welche na-
türlichen Eigenschaften der Organismen der künstliche Züchter oder
Cultivateur benutzt. Man kann alle verschiedenen Eigenschaften, die
hierbei in das Spiel kommen, schließlich zurückführen auf zwei phy-
siologische Grundeigenschaften des Organismus, die sämmtlichen Thie-
ren und Pflanzen gemeinschaftlich sind, und die mit den beiden Thä-

Vorgang der kuͤnſtlichen Zuͤchtung.
Form von der urſpruͤnglichen Stammform in weit hoͤherem Grade
abweichen kann, als zwei ſogenannte gute Arten im Naturzuſtande
thun. Die Zuͤchtungskunſt iſt jetzt ſo weit gediehen, daß der Menſch
oft willkuͤrlich beſtimmte Eigenthuͤmlichkeiten bei den cultivirten Arten
der Thiere und Pflanzen erzeugen kann. Man kann an die geuͤbte-
ſten Gaͤrtner und Landwirthe beſtimmte Auftraͤge geben, und z. B.
ſagen: Jch wuͤnſche dieſe Pflanzenart in der und der Farbe mit der
und der Zeichnung zu haben. Wo die Zuͤchtung ſo vervollkommnet
iſt, wie in England, ſind die Gaͤrtner und Landwirthe im Stande,
innerhalb einer beſtimmten Zeitdauer, nach Verlauf einer Anzahl von
Generationen, das verlangte Reſultat auf Beſtellung zu liefern. Einer
der erfahrenſten engliſchen Zuͤchter, Sir John Sebright, konnte
ſagen „er wolle eine ihm aufgegebene Feder in drei Jahren hervor-
bringen, er beduͤrfe aber ſechs Jahre, um eine gewuͤnſchte Form des
Kopfes und Schnabels zu erlangen“. Bei der Zucht der Merinoſchafe
in Sachſen werden die Thiere dreimal wiederholt neben einander auf
Tiſche gelegt und auf das Sorgfaͤltigſte vergleichend ſtudirt. Jedes-
mal werden nur die beſten Schafe, mit der feinſten Wolle ausgeleſen,
ſo daß zuletzt von einer großen Menge nur einzelne wenige, aber ganz
auserleſen feine Thiere uͤbrig bleiben. Nur dieſe letzten werden zur
Nachzucht verwandt. Es ſind alſo, wie Sie ſehen, ungemein einfache
Urſachen, mittelſt welcher die kuͤnſtliche Zuͤchtung zuletzt große Wirkun-
gen hervorbringt, und dieſe großen Wirkungen werden nur erzielt
durch Summirung der einzelnen an ſich ſehr unbedeutenden Unter-
ſchiede, die durch fortwaͤhrend wiederholte Ausleſe oder Selection
vergroͤßert werden.

Ehe wir nun zur Vergleichung dieſer kuͤnſtlichen Zuͤchtung mit
der natuͤrlichen uͤbergehen, wollen wir uns klar machen, welche na-
tuͤrlichen Eigenſchaften der Organismen der kuͤnſtliche Zuͤchter oder
Cultivateur benutzt. Man kann alle verſchiedenen Eigenſchaften, die
hierbei in das Spiel kommen, ſchließlich zuruͤckfuͤhren auf zwei phy-
ſiologiſche Grundeigenſchaften des Organismus, die ſaͤmmtlichen Thie-
ren und Pflanzen gemeinſchaftlich ſind, und die mit den beiden Thaͤ-

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[121/0142] Vorgang der kuͤnſtlichen Zuͤchtung. Form von der urſpruͤnglichen Stammform in weit hoͤherem Grade abweichen kann, als zwei ſogenannte gute Arten im Naturzuſtande thun. Die Zuͤchtungskunſt iſt jetzt ſo weit gediehen, daß der Menſch oft willkuͤrlich beſtimmte Eigenthuͤmlichkeiten bei den cultivirten Arten der Thiere und Pflanzen erzeugen kann. Man kann an die geuͤbte- ſten Gaͤrtner und Landwirthe beſtimmte Auftraͤge geben, und z. B. ſagen: Jch wuͤnſche dieſe Pflanzenart in der und der Farbe mit der und der Zeichnung zu haben. Wo die Zuͤchtung ſo vervollkommnet iſt, wie in England, ſind die Gaͤrtner und Landwirthe im Stande, innerhalb einer beſtimmten Zeitdauer, nach Verlauf einer Anzahl von Generationen, das verlangte Reſultat auf Beſtellung zu liefern. Einer der erfahrenſten engliſchen Zuͤchter, Sir John Sebright, konnte ſagen „er wolle eine ihm aufgegebene Feder in drei Jahren hervor- bringen, er beduͤrfe aber ſechs Jahre, um eine gewuͤnſchte Form des Kopfes und Schnabels zu erlangen“. Bei der Zucht der Merinoſchafe in Sachſen werden die Thiere dreimal wiederholt neben einander auf Tiſche gelegt und auf das Sorgfaͤltigſte vergleichend ſtudirt. Jedes- mal werden nur die beſten Schafe, mit der feinſten Wolle ausgeleſen, ſo daß zuletzt von einer großen Menge nur einzelne wenige, aber ganz auserleſen feine Thiere uͤbrig bleiben. Nur dieſe letzten werden zur Nachzucht verwandt. Es ſind alſo, wie Sie ſehen, ungemein einfache Urſachen, mittelſt welcher die kuͤnſtliche Zuͤchtung zuletzt große Wirkun- gen hervorbringt, und dieſe großen Wirkungen werden nur erzielt durch Summirung der einzelnen an ſich ſehr unbedeutenden Unter- ſchiede, die durch fortwaͤhrend wiederholte Ausleſe oder Selection vergroͤßert werden. Ehe wir nun zur Vergleichung dieſer kuͤnſtlichen Zuͤchtung mit der natuͤrlichen uͤbergehen, wollen wir uns klar machen, welche na- tuͤrlichen Eigenſchaften der Organismen der kuͤnſtliche Zuͤchter oder Cultivateur benutzt. Man kann alle verſchiedenen Eigenſchaften, die hierbei in das Spiel kommen, ſchließlich zuruͤckfuͤhren auf zwei phy- ſiologiſche Grundeigenſchaften des Organismus, die ſaͤmmtlichen Thie- ren und Pflanzen gemeinſchaftlich ſind, und die mit den beiden Thaͤ-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/142>, abgerufen am 25.11.2024.