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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Vergleichung der wilden und der cultivirten Organismen.
ist dieselbe Verkehrtheit, wie sie die Aerzte begehen, welche behaupten,
die Krankheiten seien künstliche Erzeugnisse, keine Naturerscheinungen.
Es hat viele Mühe gekostet, dieses Vorurtheil zu bekämpfen; und erst
in neuerer Zeit ist die Ansicht zur allgemeinen Anerkennung gelangt,
daß die Krankheiten Nichts sind, als natürliche Veränderungen des
Organismus, wirklich natürliche Lebenserscheinungen, die nur hervor-
gebracht werden durch veränderte, abnorme Existenzbedingungen. Es
ist die Krankheit also nicht, wie die älteren Aerzte sagten, ein Leben
außerhalb der Natur (Vita praeter naturam), sondern ein natür-
liches Leben unter bestimmten, krank machenden, den Körper mit Ge-
fahr bedrohenden Bedingungen. Ganz ebenso sind die Culturerzeug-
nisse nicht künstliche Producte des Menschen, sondern sie sind Natur-
producte, welche unter eigenthümlichen Lebensbedingungen entstanden
sind. Der Mensch vermag durch seine Cultur niemals unmittelbar
eine neue organische Form zu erzeugen; sondern er kann nur die Or-
ganismen unter neuen Lebensbedingungen züchten, welche umbildend
auf sie einwirken. Alle Hausthiere und alle Gartenpflanzen stammen
ursprünglich von wilden Arten ab, welche erst durch die eigenthümli-
chen Lebensbedingungen der Cultur umgebildet wurden.

Die eingehende Vergleichung der Culturformen (Rassen und
Spielarten) mit den wilden, nicht durch Cultur veränderten Organis-
men (Arten und Varietäten) ist für die Selectionstheorie von der
größten Wichtigkeit. Was Jhnen bei dieser Vergleichung zunächst am
Meisten auffällt, das ist die ungewöhnlich kurze Zeit, in welcher der
Mensch im Stande ist, eine neue Form hervorzubringen, und der un-
gewöhnliche hohe Grad, in welchem diese vom Menschen producirte
Form von der ursprünglichen Stammform abweichen kann; während
die wilden Thiere und die Pflanzen im wilden Zustande Jahr aus,
Jahr ein dem sammelnden Zoologen und Botaniker annähernd in der-
selben Form erscheinen, so daß eben hieraus das falsche Dogma der
Speciesconstanz entstehen konnte. So zeigen uns die Hausthiere und
die Gartenpflanzen innerhalb weniger Jahre die größten Veränderun-
gen. Die Vervollkommnung, welche die Züchtungskunst der Gärtner

Vergleichung der wilden und der cultivirten Organismen.
iſt dieſelbe Verkehrtheit, wie ſie die Aerzte begehen, welche behaupten,
die Krankheiten ſeien kuͤnſtliche Erzeugniſſe, keine Naturerſcheinungen.
Es hat viele Muͤhe gekoſtet, dieſes Vorurtheil zu bekaͤmpfen; und erſt
in neuerer Zeit iſt die Anſicht zur allgemeinen Anerkennung gelangt,
daß die Krankheiten Nichts ſind, als natuͤrliche Veraͤnderungen des
Organismus, wirklich natuͤrliche Lebenserſcheinungen, die nur hervor-
gebracht werden durch veraͤnderte, abnorme Exiſtenzbedingungen. Es
iſt die Krankheit alſo nicht, wie die aͤlteren Aerzte ſagten, ein Leben
außerhalb der Natur (Vita praeter naturam), ſondern ein natuͤr-
liches Leben unter beſtimmten, krank machenden, den Koͤrper mit Ge-
fahr bedrohenden Bedingungen. Ganz ebenſo ſind die Culturerzeug-
niſſe nicht kuͤnſtliche Producte des Menſchen, ſondern ſie ſind Natur-
producte, welche unter eigenthuͤmlichen Lebensbedingungen entſtanden
ſind. Der Menſch vermag durch ſeine Cultur niemals unmittelbar
eine neue organiſche Form zu erzeugen; ſondern er kann nur die Or-
ganismen unter neuen Lebensbedingungen zuͤchten, welche umbildend
auf ſie einwirken. Alle Hausthiere und alle Gartenpflanzen ſtammen
urſpruͤnglich von wilden Arten ab, welche erſt durch die eigenthuͤmli-
chen Lebensbedingungen der Cultur umgebildet wurden.

Die eingehende Vergleichung der Culturformen (Raſſen und
Spielarten) mit den wilden, nicht durch Cultur veraͤnderten Organis-
men (Arten und Varietaͤten) iſt fuͤr die Selectionstheorie von der
groͤßten Wichtigkeit. Was Jhnen bei dieſer Vergleichung zunaͤchſt am
Meiſten auffaͤllt, das iſt die ungewoͤhnlich kurze Zeit, in welcher der
Menſch im Stande iſt, eine neue Form hervorzubringen, und der un-
gewoͤhnliche hohe Grad, in welchem dieſe vom Menſchen producirte
Form von der urſpruͤnglichen Stammform abweichen kann; waͤhrend
die wilden Thiere und die Pflanzen im wilden Zuſtande Jahr aus,
Jahr ein dem ſammelnden Zoologen und Botaniker annaͤhernd in der-
ſelben Form erſcheinen, ſo daß eben hieraus das falſche Dogma der
Speciesconſtanz entſtehen konnte. So zeigen uns die Hausthiere und
die Gartenpflanzen innerhalb weniger Jahre die groͤßten Veraͤnderun-
gen. Die Vervollkommnung, welche die Zuͤchtungskunſt der Gaͤrtner

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[112/0133] Vergleichung der wilden und der cultivirten Organismen. iſt dieſelbe Verkehrtheit, wie ſie die Aerzte begehen, welche behaupten, die Krankheiten ſeien kuͤnſtliche Erzeugniſſe, keine Naturerſcheinungen. Es hat viele Muͤhe gekoſtet, dieſes Vorurtheil zu bekaͤmpfen; und erſt in neuerer Zeit iſt die Anſicht zur allgemeinen Anerkennung gelangt, daß die Krankheiten Nichts ſind, als natuͤrliche Veraͤnderungen des Organismus, wirklich natuͤrliche Lebenserſcheinungen, die nur hervor- gebracht werden durch veraͤnderte, abnorme Exiſtenzbedingungen. Es iſt die Krankheit alſo nicht, wie die aͤlteren Aerzte ſagten, ein Leben außerhalb der Natur (Vita praeter naturam), ſondern ein natuͤr- liches Leben unter beſtimmten, krank machenden, den Koͤrper mit Ge- fahr bedrohenden Bedingungen. Ganz ebenſo ſind die Culturerzeug- niſſe nicht kuͤnſtliche Producte des Menſchen, ſondern ſie ſind Natur- producte, welche unter eigenthuͤmlichen Lebensbedingungen entſtanden ſind. Der Menſch vermag durch ſeine Cultur niemals unmittelbar eine neue organiſche Form zu erzeugen; ſondern er kann nur die Or- ganismen unter neuen Lebensbedingungen zuͤchten, welche umbildend auf ſie einwirken. Alle Hausthiere und alle Gartenpflanzen ſtammen urſpruͤnglich von wilden Arten ab, welche erſt durch die eigenthuͤmli- chen Lebensbedingungen der Cultur umgebildet wurden. Die eingehende Vergleichung der Culturformen (Raſſen und Spielarten) mit den wilden, nicht durch Cultur veraͤnderten Organis- men (Arten und Varietaͤten) iſt fuͤr die Selectionstheorie von der groͤßten Wichtigkeit. Was Jhnen bei dieſer Vergleichung zunaͤchſt am Meiſten auffaͤllt, das iſt die ungewoͤhnlich kurze Zeit, in welcher der Menſch im Stande iſt, eine neue Form hervorzubringen, und der un- gewoͤhnliche hohe Grad, in welchem dieſe vom Menſchen producirte Form von der urſpruͤnglichen Stammform abweichen kann; waͤhrend die wilden Thiere und die Pflanzen im wilden Zuſtande Jahr aus, Jahr ein dem ſammelnden Zoologen und Botaniker annaͤhernd in der- ſelben Form erſcheinen, ſo daß eben hieraus das falſche Dogma der Speciesconſtanz entſtehen konnte. So zeigen uns die Hausthiere und die Gartenpflanzen innerhalb weniger Jahre die groͤßten Veraͤnderun- gen. Die Vervollkommnung, welche die Zuͤchtungskunſt der Gaͤrtner

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/133>, abgerufen am 22.11.2024.