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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Entwickelung der Selectionstheorie.
scheinungen damit verglich, schien es mir wahrscheinlich, daß nahe
verwandte Species von einer gemeinsamen Stammform abstammen
könnten. Aber einige Jahre lang konnte ich nicht begreifen, wie eine
jede Form so ausgezeichnet ihren besonderen Lebensverhältnissen ange-
paßt werden konnte. Jch begann darauf systematisch die Hausthiere
und die Gartenpflanzen zu studiren, und sah nach einiger Zeit deutlich
ein, daß die wichtigste umbildende Kraft in des Menschen Zuchtwahl-
vermögen liege, in seiner Benutzung auserlesener Jndividuen zur Nach-
zucht. Dadurch daß ich vielfach die Lebensweise und Sitten der Thiere
studirt hatte, war ich darauf vorbereitet, den Kampf um's Dasein rich-
tig zu würdigen; und meine geologischen Arbeiten gaben mir eine
Vorstellung von der ungeheuren Länge der verflossenen Zeiträume.
Als ich dann durch einen glücklichen Zufall das Buch von Malthus
"über die Bevölkerung" las, tauchte der Gedanke der natürlichen Züch-
tung in mir auf. Unter allen den untergeordneten Punkten war
der letzte, den ich schätzen lernte, die Bedeutung und Ursache des Di-
vergenzprinzips".

Während der Muße und Zurückgezogenheit, in der Darwin
nach der Rückkehr von seiner Reise lebte, beschäftigte er sich, wie aus
dieser Mittheilung hervorgeht, zunächst vorzugsweise mit dem Studi-
um der Organismen im Culturzustande, der Hausthiere und Garten-
pflanzen. Unzweifelhaft war dies der nächste und richtigste Weg, um
zur Selectionstheorie zu gelangen. Wie in allen seinen Arbeiten,
verfuhr Darwin dabei äußerst sorgfältig und genau. Er hat vom
Jahre 1837 -- 1858, also 21 Jahre lang, über diese Sache Nichts
veröffentlicht, selbst nicht eine vorläufige Skizze seiner Theorie, welche
er schon 1844 niedergeschrieben hatte. Er wollte immer noch mehr
sicher begründete empirische Beweise sammeln, um so die Theorie ganz
vollständig, auf möglichst breiter Erfahrungsgrundlage festgestellt, ver-
öffentlichen zu können. Zum Glück wurde er in diesem Streben nach
möglichster Vervollkommnung, welches vielleicht dazu geführt haben
würde, die Theorie überhaupt nicht zu veröffentlichen, durch einen
Landsmann gestört, welcher unabhängig von Darwin die Selections-

Entwickelung der Selectionstheorie.
ſcheinungen damit verglich, ſchien es mir wahrſcheinlich, daß nahe
verwandte Species von einer gemeinſamen Stammform abſtammen
koͤnnten. Aber einige Jahre lang konnte ich nicht begreifen, wie eine
jede Form ſo ausgezeichnet ihren beſonderen Lebensverhaͤltniſſen ange-
paßt werden konnte. Jch begann darauf ſyſtematiſch die Hausthiere
und die Gartenpflanzen zu ſtudiren, und ſah nach einiger Zeit deutlich
ein, daß die wichtigſte umbildende Kraft in des Menſchen Zuchtwahl-
vermoͤgen liege, in ſeiner Benutzung auserleſener Jndividuen zur Nach-
zucht. Dadurch daß ich vielfach die Lebensweiſe und Sitten der Thiere
ſtudirt hatte, war ich darauf vorbereitet, den Kampf um’s Daſein rich-
tig zu wuͤrdigen; und meine geologiſchen Arbeiten gaben mir eine
Vorſtellung von der ungeheuren Laͤnge der verfloſſenen Zeitraͤume.
Als ich dann durch einen gluͤcklichen Zufall das Buch von Malthus
„uͤber die Bevoͤlkerung“ las, tauchte der Gedanke der natuͤrlichen Zuͤch-
tung in mir auf. Unter allen den untergeordneten Punkten war
der letzte, den ich ſchaͤtzen lernte, die Bedeutung und Urſache des Di-
vergenzprinzips“.

Waͤhrend der Muße und Zuruͤckgezogenheit, in der Darwin
nach der Ruͤckkehr von ſeiner Reiſe lebte, beſchaͤftigte er ſich, wie aus
dieſer Mittheilung hervorgeht, zunaͤchſt vorzugsweiſe mit dem Studi-
um der Organismen im Culturzuſtande, der Hausthiere und Garten-
pflanzen. Unzweifelhaft war dies der naͤchſte und richtigſte Weg, um
zur Selectionstheorie zu gelangen. Wie in allen ſeinen Arbeiten,
verfuhr Darwin dabei aͤußerſt ſorgfaͤltig und genau. Er hat vom
Jahre 1837 — 1858, alſo 21 Jahre lang, uͤber dieſe Sache Nichts
veroͤffentlicht, ſelbſt nicht eine vorlaͤufige Skizze ſeiner Theorie, welche
er ſchon 1844 niedergeſchrieben hatte. Er wollte immer noch mehr
ſicher begruͤndete empiriſche Beweiſe ſammeln, um ſo die Theorie ganz
vollſtaͤndig, auf moͤglichſt breiter Erfahrungsgrundlage feſtgeſtellt, ver-
oͤffentlichen zu koͤnnen. Zum Gluͤck wurde er in dieſem Streben nach
moͤglichſter Vervollkommnung, welches vielleicht dazu gefuͤhrt haben
wuͤrde, die Theorie uͤberhaupt nicht zu veroͤffentlichen, durch einen
Landsmann geſtoͤrt, welcher unabhaͤngig von Darwin die Selections-

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[108/0129] Entwickelung der Selectionstheorie. ſcheinungen damit verglich, ſchien es mir wahrſcheinlich, daß nahe verwandte Species von einer gemeinſamen Stammform abſtammen koͤnnten. Aber einige Jahre lang konnte ich nicht begreifen, wie eine jede Form ſo ausgezeichnet ihren beſonderen Lebensverhaͤltniſſen ange- paßt werden konnte. Jch begann darauf ſyſtematiſch die Hausthiere und die Gartenpflanzen zu ſtudiren, und ſah nach einiger Zeit deutlich ein, daß die wichtigſte umbildende Kraft in des Menſchen Zuchtwahl- vermoͤgen liege, in ſeiner Benutzung auserleſener Jndividuen zur Nach- zucht. Dadurch daß ich vielfach die Lebensweiſe und Sitten der Thiere ſtudirt hatte, war ich darauf vorbereitet, den Kampf um’s Daſein rich- tig zu wuͤrdigen; und meine geologiſchen Arbeiten gaben mir eine Vorſtellung von der ungeheuren Laͤnge der verfloſſenen Zeitraͤume. Als ich dann durch einen gluͤcklichen Zufall das Buch von Malthus „uͤber die Bevoͤlkerung“ las, tauchte der Gedanke der natuͤrlichen Zuͤch- tung in mir auf. Unter allen den untergeordneten Punkten war der letzte, den ich ſchaͤtzen lernte, die Bedeutung und Urſache des Di- vergenzprinzips“. Waͤhrend der Muße und Zuruͤckgezogenheit, in der Darwin nach der Ruͤckkehr von ſeiner Reiſe lebte, beſchaͤftigte er ſich, wie aus dieſer Mittheilung hervorgeht, zunaͤchſt vorzugsweiſe mit dem Studi- um der Organismen im Culturzuſtande, der Hausthiere und Garten- pflanzen. Unzweifelhaft war dies der naͤchſte und richtigſte Weg, um zur Selectionstheorie zu gelangen. Wie in allen ſeinen Arbeiten, verfuhr Darwin dabei aͤußerſt ſorgfaͤltig und genau. Er hat vom Jahre 1837 — 1858, alſo 21 Jahre lang, uͤber dieſe Sache Nichts veroͤffentlicht, ſelbſt nicht eine vorlaͤufige Skizze ſeiner Theorie, welche er ſchon 1844 niedergeſchrieben hatte. Er wollte immer noch mehr ſicher begruͤndete empiriſche Beweiſe ſammeln, um ſo die Theorie ganz vollſtaͤndig, auf moͤglichſt breiter Erfahrungsgrundlage feſtgeſtellt, ver- oͤffentlichen zu koͤnnen. Zum Gluͤck wurde er in dieſem Streben nach moͤglichſter Vervollkommnung, welches vielleicht dazu gefuͤhrt haben wuͤrde, die Theorie uͤberhaupt nicht zu veroͤffentlichen, durch einen Landsmann geſtoͤrt, welcher unabhaͤngig von Darwin die Selections-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/129>, abgerufen am 22.11.2024.