Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Entwickelungstheorie von Geoffroy S. Hilaire.
wie die Veränderung jeder andern äußern Existenzbedingung, auf den
Organismus direkt oder indirekt umgestaltend einwirkt, so ist dennoch
diese einzelne Ursache an sich viel zu unbedeutend, um ihr solche Wir-
kungen zuzuschreiben. Sie ist selbst unbedeutender, als die von La-
marck
zu einseitig betonte Uebung und Gewohnheit. Das Haupt-
verdienst von Geoffroy besteht darin, dem mächtigen Einflusse von
Cuvier gegenüber die einheitliche Naturanschauung, die Einheit der
organischen Formbildung und den tiefen genealogischen Zusammen-
hang der verschiedenen organischen Gestalten geltend gemacht zu ha-
ben. Die berühmten Streitigkeiten zwischen den beiden großen Geg-
nern in der Pariser Akademie, insbesondere die heftigen Conflicte am
22sten Februar und am 19. Juli 1830, an denen Goethe den le-
bendigsten Antheil nahm, habe ich bereits in dem vorhergehenden Vor-
trage erwähnt (S. 72, 73). Damals blieb Cuvier der anerkannte
Sieger, und seit jener Zeit ist in Frankreich sehr Wenig oder eigentlich
Nichts mehr für die weitere Entwickelung der Abstammungslehre, für
den Ausbau einer monistischen Entwickelungstheorie geschehen. Of-
fenbar ist dies vorzugsweise dem hinderlichen Einflusse zuzuschreiben,
welchen Cuvier's große Autorität ausübte. Noch heute sind die mei-
sten französischen Naturforscher Schüler und blinde Anhänger Cuvi-
er's.
Jn keinem wissenschaftlich gebildeten Lande Europa's hat Dar-
win's
Lehre so wenig gewirkt und ist sie so wenig verstanden worden,
wie in Frankreich, so daß wir auf die französischen Naturforscher im
weitern Verlauf unserer Betrachtungen uns gar nicht mehr zu bezie-
hen brauchen. Höchstens könnten wir von den neuern französischen
Naturforschern noch zwei angesehene Botaniker hervorheben, Nau-
din
(1852) und Lecoq (1854), welche sich zu Gunsten der Verän-
derlichkeit und Umbildung der Arten auszusprechen wagten.

Nachdem wir nun die älteren Verdienste der deutschen und fran-
zösischen Naturphilosophie um die Begründung der Abstammungslehre
erörtert haben, wenden wir uns zu dem dritten (und in sehr vielen
Beziehungen dem ersten!) großen Kulturlande Europas, zu dem
freien England, welches in den letzten zehn Jahren der Hauptsitz und

Entwickelungstheorie von Geoffroy S. Hilaire.
wie die Veraͤnderung jeder andern aͤußern Exiſtenzbedingung, auf den
Organismus direkt oder indirekt umgeſtaltend einwirkt, ſo iſt dennoch
dieſe einzelne Urſache an ſich viel zu unbedeutend, um ihr ſolche Wir-
kungen zuzuſchreiben. Sie iſt ſelbſt unbedeutender, als die von La-
marck
zu einſeitig betonte Uebung und Gewohnheit. Das Haupt-
verdienſt von Geoffroy beſteht darin, dem maͤchtigen Einfluſſe von
Cuvier gegenuͤber die einheitliche Naturanſchauung, die Einheit der
organiſchen Formbildung und den tiefen genealogiſchen Zuſammen-
hang der verſchiedenen organiſchen Geſtalten geltend gemacht zu ha-
ben. Die beruͤhmten Streitigkeiten zwiſchen den beiden großen Geg-
nern in der Pariſer Akademie, insbeſondere die heftigen Conflicte am
22ſten Februar und am 19. Juli 1830, an denen Goethe den le-
bendigſten Antheil nahm, habe ich bereits in dem vorhergehenden Vor-
trage erwaͤhnt (S. 72, 73). Damals blieb Cuvier der anerkannte
Sieger, und ſeit jener Zeit iſt in Frankreich ſehr Wenig oder eigentlich
Nichts mehr fuͤr die weitere Entwickelung der Abſtammungslehre, fuͤr
den Ausbau einer moniſtiſchen Entwickelungstheorie geſchehen. Of-
fenbar iſt dies vorzugsweiſe dem hinderlichen Einfluſſe zuzuſchreiben,
welchen Cuvier’s große Autoritaͤt ausuͤbte. Noch heute ſind die mei-
ſten franzoͤſiſchen Naturforſcher Schuͤler und blinde Anhaͤnger Cuvi-
er’s.
Jn keinem wiſſenſchaftlich gebildeten Lande Europa’s hat Dar-
win’s
Lehre ſo wenig gewirkt und iſt ſie ſo wenig verſtanden worden,
wie in Frankreich, ſo daß wir auf die franzoͤſiſchen Naturforſcher im
weitern Verlauf unſerer Betrachtungen uns gar nicht mehr zu bezie-
hen brauchen. Hoͤchſtens koͤnnten wir von den neuern franzoͤſiſchen
Naturforſchern noch zwei angeſehene Botaniker hervorheben, Nau-
din
(1852) und Lecoq (1854), welche ſich zu Gunſten der Veraͤn-
derlichkeit und Umbildung der Arten auszuſprechen wagten.

Nachdem wir nun die aͤlteren Verdienſte der deutſchen und fran-
zoͤſiſchen Naturphiloſophie um die Begruͤndung der Abſtammungslehre
eroͤrtert haben, wenden wir uns zu dem dritten (und in ſehr vielen
Beziehungen dem erſten!) großen Kulturlande Europas, zu dem
freien England, welches in den letzten zehn Jahren der Hauptſitz und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0116" n="95"/><fw place="top" type="header">Entwickelungstheorie von Geoffroy S. Hilaire.</fw><lb/>
wie die Vera&#x0364;nderung jeder andern a&#x0364;ußern Exi&#x017F;tenzbedingung, auf den<lb/>
Organismus direkt oder indirekt umge&#x017F;taltend einwirkt, &#x017F;o i&#x017F;t dennoch<lb/>
die&#x017F;e einzelne Ur&#x017F;ache an &#x017F;ich viel zu unbedeutend, um ihr &#x017F;olche Wir-<lb/>
kungen zuzu&#x017F;chreiben. Sie i&#x017F;t &#x017F;elb&#x017F;t unbedeutender, als die von <hi rendition="#g">La-<lb/>
marck</hi> zu ein&#x017F;eitig betonte Uebung und Gewohnheit. Das Haupt-<lb/>
verdien&#x017F;t von <hi rendition="#g">Geoffroy</hi> be&#x017F;teht darin, dem ma&#x0364;chtigen Einflu&#x017F;&#x017F;e von<lb/><hi rendition="#g">Cuvier</hi> gegenu&#x0364;ber die einheitliche Naturan&#x017F;chauung, die Einheit der<lb/>
organi&#x017F;chen Formbildung und den tiefen genealogi&#x017F;chen Zu&#x017F;ammen-<lb/>
hang der ver&#x017F;chiedenen organi&#x017F;chen Ge&#x017F;talten geltend gemacht zu ha-<lb/>
ben. Die beru&#x0364;hmten Streitigkeiten zwi&#x017F;chen den beiden großen Geg-<lb/>
nern in der Pari&#x017F;er Akademie, insbe&#x017F;ondere die heftigen Conflicte am<lb/>
22&#x017F;ten Februar und am 19. Juli 1830, an denen <hi rendition="#g">Goethe</hi> den le-<lb/>
bendig&#x017F;ten Antheil nahm, habe ich bereits in dem vorhergehenden Vor-<lb/>
trage erwa&#x0364;hnt (S. 72, 73). Damals blieb <hi rendition="#g">Cuvier</hi> der anerkannte<lb/>
Sieger, und &#x017F;eit jener Zeit i&#x017F;t in Frankreich &#x017F;ehr Wenig oder eigentlich<lb/>
Nichts mehr fu&#x0364;r die weitere Entwickelung der Ab&#x017F;tammungslehre, fu&#x0364;r<lb/>
den Ausbau einer moni&#x017F;ti&#x017F;chen Entwickelungstheorie ge&#x017F;chehen. Of-<lb/>
fenbar i&#x017F;t dies vorzugswei&#x017F;e dem hinderlichen Einflu&#x017F;&#x017F;e zuzu&#x017F;chreiben,<lb/>
welchen <hi rendition="#g">Cuvier&#x2019;s</hi> große Autorita&#x0364;t ausu&#x0364;bte. Noch heute &#x017F;ind die mei-<lb/>
&#x017F;ten franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;chen Naturfor&#x017F;cher Schu&#x0364;ler und blinde Anha&#x0364;nger <hi rendition="#g">Cuvi-<lb/>
er&#x2019;s.</hi> Jn keinem wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlich gebildeten Lande Europa&#x2019;s hat <hi rendition="#g">Dar-<lb/>
win&#x2019;s</hi> Lehre &#x017F;o wenig gewirkt und i&#x017F;t &#x017F;ie &#x017F;o wenig ver&#x017F;tanden worden,<lb/>
wie in Frankreich, &#x017F;o daß wir auf die franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;chen Naturfor&#x017F;cher im<lb/>
weitern Verlauf un&#x017F;erer Betrachtungen uns gar nicht mehr zu bezie-<lb/>
hen brauchen. Ho&#x0364;ch&#x017F;tens ko&#x0364;nnten wir von den neuern franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;chen<lb/>
Naturfor&#x017F;chern noch zwei ange&#x017F;ehene Botaniker hervorheben, <hi rendition="#g">Nau-<lb/>
din</hi> (1852) und <hi rendition="#g">Lecoq</hi> (1854), welche &#x017F;ich zu Gun&#x017F;ten der Vera&#x0364;n-<lb/>
derlichkeit und Umbildung der Arten auszu&#x017F;prechen wagten.</p><lb/>
        <p>Nachdem wir nun die a&#x0364;lteren Verdien&#x017F;te der deut&#x017F;chen und fran-<lb/>
zo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;chen Naturphilo&#x017F;ophie um die Begru&#x0364;ndung der Ab&#x017F;tammungslehre<lb/>
ero&#x0364;rtert haben, wenden wir uns zu dem dritten (und in &#x017F;ehr vielen<lb/>
Beziehungen dem <hi rendition="#g">er&#x017F;ten!</hi>) großen Kulturlande Europas, zu dem<lb/>
freien England, welches in den letzten zehn Jahren der Haupt&#x017F;itz und<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[95/0116] Entwickelungstheorie von Geoffroy S. Hilaire. wie die Veraͤnderung jeder andern aͤußern Exiſtenzbedingung, auf den Organismus direkt oder indirekt umgeſtaltend einwirkt, ſo iſt dennoch dieſe einzelne Urſache an ſich viel zu unbedeutend, um ihr ſolche Wir- kungen zuzuſchreiben. Sie iſt ſelbſt unbedeutender, als die von La- marck zu einſeitig betonte Uebung und Gewohnheit. Das Haupt- verdienſt von Geoffroy beſteht darin, dem maͤchtigen Einfluſſe von Cuvier gegenuͤber die einheitliche Naturanſchauung, die Einheit der organiſchen Formbildung und den tiefen genealogiſchen Zuſammen- hang der verſchiedenen organiſchen Geſtalten geltend gemacht zu ha- ben. Die beruͤhmten Streitigkeiten zwiſchen den beiden großen Geg- nern in der Pariſer Akademie, insbeſondere die heftigen Conflicte am 22ſten Februar und am 19. Juli 1830, an denen Goethe den le- bendigſten Antheil nahm, habe ich bereits in dem vorhergehenden Vor- trage erwaͤhnt (S. 72, 73). Damals blieb Cuvier der anerkannte Sieger, und ſeit jener Zeit iſt in Frankreich ſehr Wenig oder eigentlich Nichts mehr fuͤr die weitere Entwickelung der Abſtammungslehre, fuͤr den Ausbau einer moniſtiſchen Entwickelungstheorie geſchehen. Of- fenbar iſt dies vorzugsweiſe dem hinderlichen Einfluſſe zuzuſchreiben, welchen Cuvier’s große Autoritaͤt ausuͤbte. Noch heute ſind die mei- ſten franzoͤſiſchen Naturforſcher Schuͤler und blinde Anhaͤnger Cuvi- er’s. Jn keinem wiſſenſchaftlich gebildeten Lande Europa’s hat Dar- win’s Lehre ſo wenig gewirkt und iſt ſie ſo wenig verſtanden worden, wie in Frankreich, ſo daß wir auf die franzoͤſiſchen Naturforſcher im weitern Verlauf unſerer Betrachtungen uns gar nicht mehr zu bezie- hen brauchen. Hoͤchſtens koͤnnten wir von den neuern franzoͤſiſchen Naturforſchern noch zwei angeſehene Botaniker hervorheben, Nau- din (1852) und Lecoq (1854), welche ſich zu Gunſten der Veraͤn- derlichkeit und Umbildung der Arten auszuſprechen wagten. Nachdem wir nun die aͤlteren Verdienſte der deutſchen und fran- zoͤſiſchen Naturphiloſophie um die Begruͤndung der Abſtammungslehre eroͤrtert haben, wenden wir uns zu dem dritten (und in ſehr vielen Beziehungen dem erſten!) großen Kulturlande Europas, zu dem freien England, welches in den letzten zehn Jahren der Hauptſitz und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/116
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/116>, abgerufen am 22.11.2024.