vergleichende Thier- und Pflanzenkunde vom größten Nutzen ist. Gleichwie z. B. die verschiedenen Dialecte, Mundarten, Sprachäste und Sprachzweige der deutschen, slavischen, griechisch-lateinischen und iranisch-indischen Grundsprache von einer einzigen gemeinschaftlichen in- dogermanischen Ursprache abstammen, und gleichwie sich deren Unter- schiede durch die Anpassung, ihre gemeinsamen Grundcharaktere durch die Vererbung erklären, so stammen auch die verschiedenen Ar- ten, Gattungen, Familien, Ordnungen und Klassen der Wirbelthiere von einer einzigen gemeinschaftlichen Wirbelthierform ab; auch hier ist die Anpassung die Ursache der Verschiedenheiten, die Vererbung die Ur- sache des gemeinsamen Grundcharakters. Einer unserer ersten verglei- chenden Sprachforscher, August Schleicher hat diesen Parallelis- mus vortrefflich erörtert 6).
Von anderen hervorragenden deutschen Naturforschern, die sich mehr oder minder bestimmt für die Descendenztheorie aussprachen, und die auf ganz verschiedenen Wegen zu derselben hingeführt wurden, habe ich zunächst Carl Ernst Bär zu nennen, den großen Refor- mator der thierischen Entwickelungsgeschichte. Jn einem 1834 gehal- tenen Vortrage, betitelt: "Das allgemeinste Gesetz der Natur in aller Entwickelung" erläutert derselbe vortrefflich, daß nur eine ganz kindi- sche Naturbetrachtung die organischen Arten als bleibende und unver- änderliche Typen ansehen könne, und daß im Gegentheil dieselben nur vorübergehende Zeugungsreihen sein können, die durch Umbildung aus gemeinsamen Stammformen sich entwickelt haben. Dieselbe An- sicht begründete Bär später (1859) durch die Gesetze der geographischen Verbreitung der Organismen.
J. M. Schleiden, welcher vor 25 Jahren hier in Jena durch seine streng empirisch-philosophische und wahrhaft wissenschaftliche Me- thode eine neue Epoche für die Pflanzenkunde begründete, erläuterte in seinen bahnbrechenden Grundzügen der wissenschaftlichen Botanik 7) die philosophische Bedeutung des organischen Speciesbegriffes, und zeigte, daß derselbe nur in dem allgemeinen Gesetze der Specifi- cation seinen subjectiven Ursprung habe. Die verschiedenen Pflan-
Genealogiſche Anſichten von Baͤr und Schleiden.
vergleichende Thier- und Pflanzenkunde vom groͤßten Nutzen iſt. Gleichwie z. B. die verſchiedenen Dialecte, Mundarten, Sprachaͤſte und Sprachzweige der deutſchen, ſlaviſchen, griechiſch-lateiniſchen und iraniſch-indiſchen Grundſprache von einer einzigen gemeinſchaftlichen in- dogermaniſchen Urſprache abſtammen, und gleichwie ſich deren Unter- ſchiede durch die Anpaſſung, ihre gemeinſamen Grundcharaktere durch die Vererbung erklaͤren, ſo ſtammen auch die verſchiedenen Ar- ten, Gattungen, Familien, Ordnungen und Klaſſen der Wirbelthiere von einer einzigen gemeinſchaftlichen Wirbelthierform ab; auch hier iſt die Anpaſſung die Urſache der Verſchiedenheiten, die Vererbung die Ur- ſache des gemeinſamen Grundcharakters. Einer unſerer erſten verglei- chenden Sprachforſcher, Auguſt Schleicher hat dieſen Parallelis- mus vortrefflich eroͤrtert 6).
Von anderen hervorragenden deutſchen Naturforſchern, die ſich mehr oder minder beſtimmt fuͤr die Deſcendenztheorie ausſprachen, und die auf ganz verſchiedenen Wegen zu derſelben hingefuͤhrt wurden, habe ich zunaͤchſt Carl Ernſt Baͤr zu nennen, den großen Refor- mator der thieriſchen Entwickelungsgeſchichte. Jn einem 1834 gehal- tenen Vortrage, betitelt: „Das allgemeinſte Geſetz der Natur in aller Entwickelung“ erlaͤutert derſelbe vortrefflich, daß nur eine ganz kindi- ſche Naturbetrachtung die organiſchen Arten als bleibende und unver- aͤnderliche Typen anſehen koͤnne, und daß im Gegentheil dieſelben nur voruͤbergehende Zeugungsreihen ſein koͤnnen, die durch Umbildung aus gemeinſamen Stammformen ſich entwickelt haben. Dieſelbe An- ſicht begruͤndete Baͤr ſpaͤter (1859) durch die Geſetze der geographiſchen Verbreitung der Organismen.
J. M. Schleiden, welcher vor 25 Jahren hier in Jena durch ſeine ſtreng empiriſch-philoſophiſche und wahrhaft wiſſenſchaftliche Me- thode eine neue Epoche fuͤr die Pflanzenkunde begruͤndete, erlaͤuterte in ſeinen bahnbrechenden Grundzuͤgen der wiſſenſchaftlichen Botanik 7) die philoſophiſche Bedeutung des organiſchen Speciesbegriffes, und zeigte, daß derſelbe nur in dem allgemeinen Geſetze der Specifi- cation ſeinen ſubjectiven Urſprung habe. Die verſchiedenen Pflan-
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0108"n="87"/><fwplace="top"type="header">Genealogiſche Anſichten von Baͤr und Schleiden.</fw><lb/>
vergleichende Thier- und Pflanzenkunde vom groͤßten Nutzen iſt.<lb/>
Gleichwie z. B. die verſchiedenen Dialecte, Mundarten, Sprachaͤſte<lb/>
und Sprachzweige der deutſchen, ſlaviſchen, griechiſch-lateiniſchen und<lb/>
iraniſch-indiſchen Grundſprache von einer einzigen gemeinſchaftlichen in-<lb/>
dogermaniſchen Urſprache abſtammen, und gleichwie ſich deren <hirendition="#g">Unter-<lb/>ſchiede</hi> durch die <hirendition="#g">Anpaſſung,</hi> ihre gemeinſamen <hirendition="#g">Grundcharaktere</hi><lb/>
durch die <hirendition="#g">Vererbung</hi> erklaͤren, ſo ſtammen auch die verſchiedenen Ar-<lb/>
ten, Gattungen, Familien, Ordnungen und Klaſſen der Wirbelthiere von<lb/>
einer einzigen gemeinſchaftlichen Wirbelthierform ab; auch hier iſt die<lb/>
Anpaſſung die Urſache der Verſchiedenheiten, die Vererbung die Ur-<lb/>ſache des gemeinſamen Grundcharakters. Einer unſerer erſten verglei-<lb/>
chenden Sprachforſcher, <hirendition="#g">Auguſt Schleicher</hi> hat dieſen Parallelis-<lb/>
mus vortrefflich eroͤrtert <hirendition="#sup">6</hi>).</p><lb/><p>Von anderen hervorragenden deutſchen Naturforſchern, die ſich<lb/>
mehr oder minder beſtimmt fuͤr die Deſcendenztheorie ausſprachen, und<lb/>
die auf ganz verſchiedenen Wegen zu derſelben hingefuͤhrt wurden,<lb/>
habe ich zunaͤchſt <hirendition="#g">Carl Ernſt Baͤr</hi> zu nennen, den großen Refor-<lb/>
mator der thieriſchen Entwickelungsgeſchichte. Jn einem 1834 gehal-<lb/>
tenen Vortrage, betitelt: „Das allgemeinſte Geſetz der Natur in aller<lb/>
Entwickelung“ erlaͤutert derſelbe vortrefflich, daß nur eine ganz kindi-<lb/>ſche Naturbetrachtung die organiſchen Arten als bleibende und unver-<lb/>
aͤnderliche Typen anſehen koͤnne, und daß im Gegentheil dieſelben nur<lb/>
voruͤbergehende Zeugungsreihen ſein koͤnnen, die durch Umbildung<lb/>
aus gemeinſamen Stammformen ſich entwickelt haben. Dieſelbe An-<lb/>ſicht begruͤndete <hirendition="#g">Baͤr</hi>ſpaͤter (1859) durch die Geſetze der geographiſchen<lb/>
Verbreitung der Organismen.</p><lb/><p>J. M. <hirendition="#g">Schleiden,</hi> welcher vor 25 Jahren hier in Jena durch<lb/>ſeine ſtreng empiriſch-philoſophiſche und wahrhaft wiſſenſchaftliche Me-<lb/>
thode eine neue Epoche fuͤr die Pflanzenkunde begruͤndete, erlaͤuterte<lb/>
in ſeinen bahnbrechenden Grundzuͤgen der wiſſenſchaftlichen Botanik <hirendition="#sup">7</hi>)<lb/>
die philoſophiſche Bedeutung des organiſchen Speciesbegriffes, und<lb/>
zeigte, daß derſelbe nur in dem allgemeinen <hirendition="#g">Geſetze der Specifi-<lb/>
cation</hi>ſeinen ſubjectiven Urſprung habe. Die verſchiedenen Pflan-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[87/0108]
Genealogiſche Anſichten von Baͤr und Schleiden.
vergleichende Thier- und Pflanzenkunde vom groͤßten Nutzen iſt.
Gleichwie z. B. die verſchiedenen Dialecte, Mundarten, Sprachaͤſte
und Sprachzweige der deutſchen, ſlaviſchen, griechiſch-lateiniſchen und
iraniſch-indiſchen Grundſprache von einer einzigen gemeinſchaftlichen in-
dogermaniſchen Urſprache abſtammen, und gleichwie ſich deren Unter-
ſchiede durch die Anpaſſung, ihre gemeinſamen Grundcharaktere
durch die Vererbung erklaͤren, ſo ſtammen auch die verſchiedenen Ar-
ten, Gattungen, Familien, Ordnungen und Klaſſen der Wirbelthiere von
einer einzigen gemeinſchaftlichen Wirbelthierform ab; auch hier iſt die
Anpaſſung die Urſache der Verſchiedenheiten, die Vererbung die Ur-
ſache des gemeinſamen Grundcharakters. Einer unſerer erſten verglei-
chenden Sprachforſcher, Auguſt Schleicher hat dieſen Parallelis-
mus vortrefflich eroͤrtert 6).
Von anderen hervorragenden deutſchen Naturforſchern, die ſich
mehr oder minder beſtimmt fuͤr die Deſcendenztheorie ausſprachen, und
die auf ganz verſchiedenen Wegen zu derſelben hingefuͤhrt wurden,
habe ich zunaͤchſt Carl Ernſt Baͤr zu nennen, den großen Refor-
mator der thieriſchen Entwickelungsgeſchichte. Jn einem 1834 gehal-
tenen Vortrage, betitelt: „Das allgemeinſte Geſetz der Natur in aller
Entwickelung“ erlaͤutert derſelbe vortrefflich, daß nur eine ganz kindi-
ſche Naturbetrachtung die organiſchen Arten als bleibende und unver-
aͤnderliche Typen anſehen koͤnne, und daß im Gegentheil dieſelben nur
voruͤbergehende Zeugungsreihen ſein koͤnnen, die durch Umbildung
aus gemeinſamen Stammformen ſich entwickelt haben. Dieſelbe An-
ſicht begruͤndete Baͤr ſpaͤter (1859) durch die Geſetze der geographiſchen
Verbreitung der Organismen.
J. M. Schleiden, welcher vor 25 Jahren hier in Jena durch
ſeine ſtreng empiriſch-philoſophiſche und wahrhaft wiſſenſchaftliche Me-
thode eine neue Epoche fuͤr die Pflanzenkunde begruͤndete, erlaͤuterte
in ſeinen bahnbrechenden Grundzuͤgen der wiſſenſchaftlichen Botanik 7)
die philoſophiſche Bedeutung des organiſchen Speciesbegriffes, und
zeigte, daß derſelbe nur in dem allgemeinen Geſetze der Specifi-
cation ſeinen ſubjectiven Urſprung habe. Die verſchiedenen Pflan-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/108>, abgerufen am 04.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.