gig zusammenhängende Verwandtschaft einen Grund haben soll) ent- springen zu lassen".
Wenn Sie diese merkwürdige Stelle aus Kant's Kritik der teleo- logischen Urtheilskraft herausnehmen und einzeln für sich betrachten, so müssen Sie darüber erstaunen, wie tief und klar der große Denker schon damals (1790!) die innere Nothwendigkeit der Abstammungs- lehre erkannte, und sie als den einzig möglichen Weg zur Erklärung der organischen Natur durch mechanische Gesetze, d. h. zu einer wahr- haft wissenschaftlichen Erkenntniß bezeichnete. Auf Grund dieser einen Stelle könnte man Kant geradezu neben Goethe und Lamarck als einen der ersten Begründer der Abstammungslehre bezeichnen, und dieser Umstand dürfte bei dem hohen Ansehn, in welchem Kant's kritische Philosophie mit vollem Rechte steht, vielleicht geeignet sein, manchen Philosophen zu Gunsten derselben umzustimmen. Sobald Sie indessen diese Stelle im Zusammenhang mit dem übrigen Gedanken- gang der "Kritik der Urtheilskraft" betrachten, und anderen geradezu widersprechenden Stellen gegenüber halten, zeigt sich Jhnen deutlich, daß Kant in diesen und einigen ähnlichen (aber schwächeren) Sätzen über sich selbst hinausging und seinen in der Biologie gewöhnlich ein- genommenen teleologischen Standpunkt verließ.
Selbst unmittelbar auf jenen wörtlich angeführten, bewunderungs- würdigen Satz folgt ein Zusatz, welcher demselben die Spitze abbricht. Nachdem Kant so eben ganz richtig die "Entstehung der organischen Formen aus der rohen Materie nach mechanischen Gesetzen (gleich de- nen der Krystallerzeugung)", sowie eine stufenweise Entwickelung der verschiedenen Species durch Abstammung von einer gemeinschaftlichen Urmutter behauptet hatte, fügte er hinzu: "Allein er (der Archäolog der Natur, d. h. der Paläontolog) muß gleichwohl zu dem Ende dieser allgemeinen Mutter eine auf alle diese Geschöpfe zweckmäßig gestellte Organisation beilegen, widrigenfalls die Zweckform der Producte des Thier- und Pflanzenreichs ihrer Möglichkeit nach gar nicht zu denken ist". Offenbar hebt dieser Zusatz den wichtigsten Grundgedanken des vorhergehenden Satzes, daß durch die Descendenztheorie eine rein me-
Kant’s genealogiſche Entwickelungstheorie.
gig zuſammenhaͤngende Verwandtſchaft einen Grund haben ſoll) ent- ſpringen zu laſſen“.
Wenn Sie dieſe merkwuͤrdige Stelle aus Kant’s Kritik der teleo- logiſchen Urtheilskraft herausnehmen und einzeln fuͤr ſich betrachten, ſo muͤſſen Sie daruͤber erſtaunen, wie tief und klar der große Denker ſchon damals (1790!) die innere Nothwendigkeit der Abſtammungs- lehre erkannte, und ſie als den einzig moͤglichen Weg zur Erklaͤrung der organiſchen Natur durch mechaniſche Geſetze, d. h. zu einer wahr- haft wiſſenſchaftlichen Erkenntniß bezeichnete. Auf Grund dieſer einen Stelle koͤnnte man Kant geradezu neben Goethe und Lamarck als einen der erſten Begruͤnder der Abſtammungslehre bezeichnen, und dieſer Umſtand duͤrfte bei dem hohen Anſehn, in welchem Kant’s kritiſche Philoſophie mit vollem Rechte ſteht, vielleicht geeignet ſein, manchen Philoſophen zu Gunſten derſelben umzuſtimmen. Sobald Sie indeſſen dieſe Stelle im Zuſammenhang mit dem uͤbrigen Gedanken- gang der „Kritik der Urtheilskraft“ betrachten, und anderen geradezu widerſprechenden Stellen gegenuͤber halten, zeigt ſich Jhnen deutlich, daß Kant in dieſen und einigen aͤhnlichen (aber ſchwaͤcheren) Saͤtzen uͤber ſich ſelbſt hinausging und ſeinen in der Biologie gewoͤhnlich ein- genommenen teleologiſchen Standpunkt verließ.
Selbſt unmittelbar auf jenen woͤrtlich angefuͤhrten, bewunderungs- wuͤrdigen Satz folgt ein Zuſatz, welcher demſelben die Spitze abbricht. Nachdem Kant ſo eben ganz richtig die „Entſtehung der organiſchen Formen aus der rohen Materie nach mechaniſchen Geſetzen (gleich de- nen der Kryſtallerzeugung)“, ſowie eine ſtufenweiſe Entwickelung der verſchiedenen Species durch Abſtammung von einer gemeinſchaftlichen Urmutter behauptet hatte, fuͤgte er hinzu: „Allein er (der Archaͤolog der Natur, d. h. der Palaͤontolog) muß gleichwohl zu dem Ende dieſer allgemeinen Mutter eine auf alle dieſe Geſchoͤpfe zweckmaͤßig geſtellte Organiſation beilegen, widrigenfalls die Zweckform der Producte des Thier- und Pflanzenreichs ihrer Moͤglichkeit nach gar nicht zu denken iſt“. Offenbar hebt dieſer Zuſatz den wichtigſten Grundgedanken des vorhergehenden Satzes, daß durch die Deſcendenztheorie eine rein me-
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[84/0105]
Kant’s genealogiſche Entwickelungstheorie.
gig zuſammenhaͤngende Verwandtſchaft einen Grund haben ſoll) ent-
ſpringen zu laſſen“.
Wenn Sie dieſe merkwuͤrdige Stelle aus Kant’s Kritik der teleo-
logiſchen Urtheilskraft herausnehmen und einzeln fuͤr ſich betrachten, ſo
muͤſſen Sie daruͤber erſtaunen, wie tief und klar der große Denker
ſchon damals (1790!) die innere Nothwendigkeit der Abſtammungs-
lehre erkannte, und ſie als den einzig moͤglichen Weg zur Erklaͤrung
der organiſchen Natur durch mechaniſche Geſetze, d. h. zu einer wahr-
haft wiſſenſchaftlichen Erkenntniß bezeichnete. Auf Grund dieſer einen
Stelle koͤnnte man Kant geradezu neben Goethe und Lamarck als
einen der erſten Begruͤnder der Abſtammungslehre bezeichnen, und
dieſer Umſtand duͤrfte bei dem hohen Anſehn, in welchem Kant’s
kritiſche Philoſophie mit vollem Rechte ſteht, vielleicht geeignet ſein,
manchen Philoſophen zu Gunſten derſelben umzuſtimmen. Sobald Sie
indeſſen dieſe Stelle im Zuſammenhang mit dem uͤbrigen Gedanken-
gang der „Kritik der Urtheilskraft“ betrachten, und anderen geradezu
widerſprechenden Stellen gegenuͤber halten, zeigt ſich Jhnen deutlich,
daß Kant in dieſen und einigen aͤhnlichen (aber ſchwaͤcheren) Saͤtzen
uͤber ſich ſelbſt hinausging und ſeinen in der Biologie gewoͤhnlich ein-
genommenen teleologiſchen Standpunkt verließ.
Selbſt unmittelbar auf jenen woͤrtlich angefuͤhrten, bewunderungs-
wuͤrdigen Satz folgt ein Zuſatz, welcher demſelben die Spitze abbricht.
Nachdem Kant ſo eben ganz richtig die „Entſtehung der organiſchen
Formen aus der rohen Materie nach mechaniſchen Geſetzen (gleich de-
nen der Kryſtallerzeugung)“, ſowie eine ſtufenweiſe Entwickelung der
verſchiedenen Species durch Abſtammung von einer gemeinſchaftlichen
Urmutter behauptet hatte, fuͤgte er hinzu: „Allein er (der Archaͤolog
der Natur, d. h. der Palaͤontolog) muß gleichwohl zu dem Ende dieſer
allgemeinen Mutter eine auf alle dieſe Geſchoͤpfe zweckmaͤßig geſtellte
Organiſation beilegen, widrigenfalls die Zweckform der Producte des
Thier- und Pflanzenreichs ihrer Moͤglichkeit nach gar nicht zu denken
iſt“. Offenbar hebt dieſer Zuſatz den wichtigſten Grundgedanken des
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/105>, abgerufen am 24.11.2024.
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