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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Kant's dualistische Biologie.
derspruch steht. Die Philosophen, welche jener Teleologie huldigen,
müssen nothwendiger Weise zwei grundverschiedene Naturen annehmen:
eine anorganische Natur, welche durch mechanisch wirkende Ur-
sachen (causae efficientes), und eine organische Natur, welche
durch zweckmäßig thätige Ursachen (causae finales) erklärt wer-
den muß. (Vergl. S. 28.)

Dieser Dualismus tritt uns auffallend entgegen, wenn wir die
Naturanschauung des größten deutschen Philosophen, Kant's, betrach-
ten, und die Vorstellungen ins Auge fassen, welche er sich von der
Entstehung der Organismen bildete. Eine nähere Betrachtung dieser
Vorstellungen ist hier schon deshalb geboten, weil wir in Kant einen
der wenigen Philosophen verehren, welche eine gediegene naturwissen-
schaftliche Bildung mit einer außerordentlichen Klarheit und Tiefe der
Speculation verbinden. Der Königsberger Philosoph erwarb sich nicht
bloß durch Begründung der kritischen Philosophie den höchsten Ruhm un-
ter den speculativen Philosophen, sondern auch durch seine Naturgeschichte
des Himmels einen glänzenden Namen unter den Naturforschern.
Gleichzeitig mit dem französischen Mathematiker Laplace, und unab-
hängig von demselben, begründete er eine mechanische Theorie von der
Entstehung des Weltgebäudes, auf welche wir später zurückkommen
werden. Kant war also Naturphilosoph im besten und reinsten
Sinne des Wortes.

Wenn Sie Kant's Kritik der teleologischen Urtheilskraft, sein be-
deutendstes biologisches Werk, lesen, so gewahren Sie, daß er sich bei
Betrachtung der organischen Natur wesentlich immer auf dem teleolo-
gischen oder dualistischen Standpunkt erhält, während er für die an-
organische Natur unbedingt und ohne Rückhalt die mechanische oder
monistische Erklärungsmethode annimmt. Er behauptet, daß sich im
Gebiete der anorganischen Natur sämmtliche Erscheinungen aus me-
chanischen Ursachen, aus den bewegenden Kräften der Materie selbst
erklären lassen, im Gebiete der organischen Natur dagegen nicht. Jn
der gesammten Anorganologie (in der Geologie und Mineralogie,
in der Meteorologie und Astronomie, in der Physik und Chemie der

Haeckel Natürliche Schöpfungsgeschichte. 6

Kant’s dualiſtiſche Biologie.
derſpruch ſteht. Die Philoſophen, welche jener Teleologie huldigen,
muͤſſen nothwendiger Weiſe zwei grundverſchiedene Naturen annehmen:
eine anorganiſche Natur, welche durch mechaniſch wirkende Ur-
ſachen (causae efficientes), und eine organiſche Natur, welche
durch zweckmaͤßig thaͤtige Urſachen (causae finales) erklaͤrt wer-
den muß. (Vergl. S. 28.)

Dieſer Dualismus tritt uns auffallend entgegen, wenn wir die
Naturanſchauung des groͤßten deutſchen Philoſophen, Kant’s, betrach-
ten, und die Vorſtellungen ins Auge faſſen, welche er ſich von der
Entſtehung der Organismen bildete. Eine naͤhere Betrachtung dieſer
Vorſtellungen iſt hier ſchon deshalb geboten, weil wir in Kant einen
der wenigen Philoſophen verehren, welche eine gediegene naturwiſſen-
ſchaftliche Bildung mit einer außerordentlichen Klarheit und Tiefe der
Speculation verbinden. Der Koͤnigsberger Philoſoph erwarb ſich nicht
bloß durch Begruͤndung der kritiſchen Philoſophie den hoͤchſten Ruhm un-
ter den ſpeculativen Philoſophen, ſondern auch durch ſeine Naturgeſchichte
des Himmels einen glaͤnzenden Namen unter den Naturforſchern.
Gleichzeitig mit dem franzoͤſiſchen Mathematiker Laplace, und unab-
haͤngig von demſelben, begruͤndete er eine mechaniſche Theorie von der
Entſtehung des Weltgebaͤudes, auf welche wir ſpaͤter zuruͤckkommen
werden. Kant war alſo Naturphiloſoph im beſten und reinſten
Sinne des Wortes.

Wenn Sie Kant’s Kritik der teleologiſchen Urtheilskraft, ſein be-
deutendſtes biologiſches Werk, leſen, ſo gewahren Sie, daß er ſich bei
Betrachtung der organiſchen Natur weſentlich immer auf dem teleolo-
giſchen oder dualiſtiſchen Standpunkt erhaͤlt, waͤhrend er fuͤr die an-
organiſche Natur unbedingt und ohne Ruͤckhalt die mechaniſche oder
moniſtiſche Erklaͤrungsmethode annimmt. Er behauptet, daß ſich im
Gebiete der anorganiſchen Natur ſaͤmmtliche Erſcheinungen aus me-
chaniſchen Urſachen, aus den bewegenden Kraͤften der Materie ſelbſt
erklaͤren laſſen, im Gebiete der organiſchen Natur dagegen nicht. Jn
der geſammten Anorganologie (in der Geologie und Mineralogie,
in der Meteorologie und Aſtronomie, in der Phyſik und Chemie der

Haeckel Natuͤrliche Schoͤpfungsgeſchichte. 6
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[81/0102] Kant’s dualiſtiſche Biologie. derſpruch ſteht. Die Philoſophen, welche jener Teleologie huldigen, muͤſſen nothwendiger Weiſe zwei grundverſchiedene Naturen annehmen: eine anorganiſche Natur, welche durch mechaniſch wirkende Ur- ſachen (causae efficientes), und eine organiſche Natur, welche durch zweckmaͤßig thaͤtige Urſachen (causae finales) erklaͤrt wer- den muß. (Vergl. S. 28.) Dieſer Dualismus tritt uns auffallend entgegen, wenn wir die Naturanſchauung des groͤßten deutſchen Philoſophen, Kant’s, betrach- ten, und die Vorſtellungen ins Auge faſſen, welche er ſich von der Entſtehung der Organismen bildete. Eine naͤhere Betrachtung dieſer Vorſtellungen iſt hier ſchon deshalb geboten, weil wir in Kant einen der wenigen Philoſophen verehren, welche eine gediegene naturwiſſen- ſchaftliche Bildung mit einer außerordentlichen Klarheit und Tiefe der Speculation verbinden. Der Koͤnigsberger Philoſoph erwarb ſich nicht bloß durch Begruͤndung der kritiſchen Philoſophie den hoͤchſten Ruhm un- ter den ſpeculativen Philoſophen, ſondern auch durch ſeine Naturgeſchichte des Himmels einen glaͤnzenden Namen unter den Naturforſchern. Gleichzeitig mit dem franzoͤſiſchen Mathematiker Laplace, und unab- haͤngig von demſelben, begruͤndete er eine mechaniſche Theorie von der Entſtehung des Weltgebaͤudes, auf welche wir ſpaͤter zuruͤckkommen werden. Kant war alſo Naturphiloſoph im beſten und reinſten Sinne des Wortes. Wenn Sie Kant’s Kritik der teleologiſchen Urtheilskraft, ſein be- deutendſtes biologiſches Werk, leſen, ſo gewahren Sie, daß er ſich bei Betrachtung der organiſchen Natur weſentlich immer auf dem teleolo- giſchen oder dualiſtiſchen Standpunkt erhaͤlt, waͤhrend er fuͤr die an- organiſche Natur unbedingt und ohne Ruͤckhalt die mechaniſche oder moniſtiſche Erklaͤrungsmethode annimmt. Er behauptet, daß ſich im Gebiete der anorganiſchen Natur ſaͤmmtliche Erſcheinungen aus me- chaniſchen Urſachen, aus den bewegenden Kraͤften der Materie ſelbſt erklaͤren laſſen, im Gebiete der organiſchen Natur dagegen nicht. Jn der geſammten Anorganologie (in der Geologie und Mineralogie, in der Meteorologie und Aſtronomie, in der Phyſik und Chemie der Haeckel Natuͤrliche Schoͤpfungsgeſchichte. 6

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/102>, abgerufen am 25.11.2024.