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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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VIII. Entwickelungsgeschichte der Stämme.
wir die Summe aller Organismen, welche von einer und derselben
einfachsten, spontan entstandenen Stammform ihren gemeinschaftlichen
Ursprung ableiten, als einen organischen Stamm oder Phylon be-
zeichnen, so können wir demnach die Palaeontologie die Ent-
wickelungsgeschichte der Stämme
oder Phylogenie nennen.

Allerdings existirt die Palaeontologie in diesem Sinne noch kaum
als Wissenschaft; und erst nachdem durch Darwin die Abstammungs-
lehre neu begründet war, haben in den letzten Jahren einige Palaeonto-
logen angefangen, hier und da den genealogischen Massstab an die
palaeontologischen Entwickelungsreihen anzulegen, und in der Formen-
Aehnlichkeit der nach einander auftretenden Arten ihre wirkliche Bluts-
verwandtschaft zu erkennen. Wir können aber nicht daran zweifeln,
dass dieser kaum erst emporgekeimte Samen sich rasch zu einem ge-
waltigen Baume entwickeln wird, dessen Krone bald eine ganze Reihe
von anderen wissenschaftlichen Disciplinen in ihren Schatten aufnehmen
und überdecken wird. So wird es hoffentlich, um nur eine hieraus
sich ergebende Perspective zu eröffnen, nicht mehr lange dauern, bis
der thatsächlich schon theilweis bekannte Stammbaum unseres eigenen
Geschlechts sich auf dieser Basis neu wird aufrichten lassen. Von
keinem Stamme der Organismen ist bis jetzt die palaeontologische
Entwickelungsgeschichte so genau gekannt, als von demjenigen, zu dem
wir selbst gehören, vom Stamme der Wirbelthiere. Wir wissen, dass
auf die ältesten, tiefstehenden silurischen Fische vollkommenere folgten,
aus denen sich die Amphibien hervorbildeten, dass erst weit später die
höheren Wirbelthiere, die Säugethiere erschienen, und zwar zunächst
nur didelphe, niedere Beutelthiere, und erst später die monodelphen,
aus deren affenartigen Formen das Menschengeschlecht selbst sich erst
sehr spät und allmählig entwickelt hat. Wie anders wird das Studium
der historischen menschlichen Entwickelung, welche wir mit echt
menschlichem verblendetem Hochmuthe die "Weltgeschichte" zu
nennen pflegen, sich gestalten, wenn diese Thatsache erst allgemein
anerkannt sein wird, und wenn diese Weltgeschichte mit ihren wenigen
tausend Jahren nur als ein ganz kleiner, winziger Ausläufer von der
Millionen-Reihe von Jahrtausenden erscheinen wird, innerhalb deren
unsere Verwandten und unsere Vorfahren, die Wirbelthiere, sich lang-
sam und allmählig aus niederen Amphioxus ähnlichen Fischen ent-
wickelt haben, deren gemeinsame Stammwurzel auf eine einfache, spon-
tan entstandene Plastide zurückzuführen ist.

Die wissenschaftliche Palaeontologie ist für uns also
ebenso die Entwickelungsgeschichte der organischen Stämme,

wie die Embryologie die Entwickelungsgeschichte der Indi-
viduen oder Personen
. Die überraschende parallele Stufenleiter,
welche zwischen diesen beiden aufsteigenden Entwickelungsreihen statt-

VIII. Entwickelungsgeschichte der Stämme.
wir die Summe aller Organismen, welche von einer und derselben
einfachsten, spontan entstandenen Stammform ihren gemeinschaftlichen
Ursprung ableiten, als einen organischen Stamm oder Phylon be-
zeichnen, so können wir demnach die Palaeontologie die Ent-
wickelungsgeschichte der Stämme
oder Phylogenie nennen.

Allerdings existirt die Palaeontologie in diesem Sinne noch kaum
als Wissenschaft; und erst nachdem durch Darwin die Abstammungs-
lehre neu begründet war, haben in den letzten Jahren einige Palaeonto-
logen angefangen, hier und da den genealogischen Massstab an die
palaeontologischen Entwickelungsreihen anzulegen, und in der Formen-
Aehnlichkeit der nach einander auftretenden Arten ihre wirkliche Bluts-
verwandtschaft zu erkennen. Wir können aber nicht daran zweifeln,
dass dieser kaum erst emporgekeimte Samen sich rasch zu einem ge-
waltigen Baume entwickeln wird, dessen Krone bald eine ganze Reihe
von anderen wissenschaftlichen Disciplinen in ihren Schatten aufnehmen
und überdecken wird. So wird es hoffentlich, um nur eine hieraus
sich ergebende Perspective zu eröffnen, nicht mehr lange dauern, bis
der thatsächlich schon theilweis bekannte Stammbaum unseres eigenen
Geschlechts sich auf dieser Basis neu wird aufrichten lassen. Von
keinem Stamme der Organismen ist bis jetzt die palaeontologische
Entwickelungsgeschichte so genau gekannt, als von demjenigen, zu dem
wir selbst gehören, vom Stamme der Wirbelthiere. Wir wissen, dass
auf die ältesten, tiefstehenden silurischen Fische vollkommenere folgten,
aus denen sich die Amphibien hervorbildeten, dass erst weit später die
höheren Wirbelthiere, die Säugethiere erschienen, und zwar zunächst
nur didelphe, niedere Beutelthiere, und erst später die monodelphen,
aus deren affenartigen Formen das Menschengeschlecht selbst sich erst
sehr spät und allmählig entwickelt hat. Wie anders wird das Studium
der historischen menschlichen Entwickelung, welche wir mit echt
menschlichem verblendetem Hochmuthe die „Weltgeschichte“ zu
nennen pflegen, sich gestalten, wenn diese Thatsache erst allgemein
anerkannt sein wird, und wenn diese Weltgeschichte mit ihren wenigen
tausend Jahren nur als ein ganz kleiner, winziger Ausläufer von der
Millionen-Reihe von Jahrtausenden erscheinen wird, innerhalb deren
unsere Verwandten und unsere Vorfahren, die Wirbelthiere, sich lang-
sam und allmählig aus niederen Amphioxus ähnlichen Fischen ent-
wickelt haben, deren gemeinsame Stammwurzel auf eine einfache, spon-
tan entstandene Plastide zurückzuführen ist.

Die wissenschaftliche Palaeontologie ist für uns also
ebenso die Entwickelungsgeschichte der organischen Stämme,

wie die Embryologie die Entwickelungsgeschichte der Indi-
viduen oder Personen
. Die überraschende parallele Stufenleiter,
welche zwischen diesen beiden aufsteigenden Entwickelungsreihen statt-

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[59/0098] VIII. Entwickelungsgeschichte der Stämme. wir die Summe aller Organismen, welche von einer und derselben einfachsten, spontan entstandenen Stammform ihren gemeinschaftlichen Ursprung ableiten, als einen organischen Stamm oder Phylon be- zeichnen, so können wir demnach die Palaeontologie die Ent- wickelungsgeschichte der Stämme oder Phylogenie nennen. Allerdings existirt die Palaeontologie in diesem Sinne noch kaum als Wissenschaft; und erst nachdem durch Darwin die Abstammungs- lehre neu begründet war, haben in den letzten Jahren einige Palaeonto- logen angefangen, hier und da den genealogischen Massstab an die palaeontologischen Entwickelungsreihen anzulegen, und in der Formen- Aehnlichkeit der nach einander auftretenden Arten ihre wirkliche Bluts- verwandtschaft zu erkennen. Wir können aber nicht daran zweifeln, dass dieser kaum erst emporgekeimte Samen sich rasch zu einem ge- waltigen Baume entwickeln wird, dessen Krone bald eine ganze Reihe von anderen wissenschaftlichen Disciplinen in ihren Schatten aufnehmen und überdecken wird. So wird es hoffentlich, um nur eine hieraus sich ergebende Perspective zu eröffnen, nicht mehr lange dauern, bis der thatsächlich schon theilweis bekannte Stammbaum unseres eigenen Geschlechts sich auf dieser Basis neu wird aufrichten lassen. Von keinem Stamme der Organismen ist bis jetzt die palaeontologische Entwickelungsgeschichte so genau gekannt, als von demjenigen, zu dem wir selbst gehören, vom Stamme der Wirbelthiere. Wir wissen, dass auf die ältesten, tiefstehenden silurischen Fische vollkommenere folgten, aus denen sich die Amphibien hervorbildeten, dass erst weit später die höheren Wirbelthiere, die Säugethiere erschienen, und zwar zunächst nur didelphe, niedere Beutelthiere, und erst später die monodelphen, aus deren affenartigen Formen das Menschengeschlecht selbst sich erst sehr spät und allmählig entwickelt hat. Wie anders wird das Studium der historischen menschlichen Entwickelung, welche wir mit echt menschlichem verblendetem Hochmuthe die „Weltgeschichte“ zu nennen pflegen, sich gestalten, wenn diese Thatsache erst allgemein anerkannt sein wird, und wenn diese Weltgeschichte mit ihren wenigen tausend Jahren nur als ein ganz kleiner, winziger Ausläufer von der Millionen-Reihe von Jahrtausenden erscheinen wird, innerhalb deren unsere Verwandten und unsere Vorfahren, die Wirbelthiere, sich lang- sam und allmählig aus niederen Amphioxus ähnlichen Fischen ent- wickelt haben, deren gemeinsame Stammwurzel auf eine einfache, spon- tan entstandene Plastide zurückzuführen ist. Die wissenschaftliche Palaeontologie ist für uns also ebenso die Entwickelungsgeschichte der organischen Stämme, wie die Embryologie die Entwickelungsgeschichte der Indi- viduen oder Personen. Die überraschende parallele Stufenleiter, welche zwischen diesen beiden aufsteigenden Entwickelungsreihen statt-

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/98>, abgerufen am 28.11.2024.