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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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VI. Morphogenie oder Entwickelungsgeschichte.
begründet, zunächst darin, dass die Kenntniss der Formentwickelung
für das Verständniss der entwickelten Form unerlässlich ist, und dass
nur die vollständige Erkenntniss der continuirlichen Bewegungen, als
deren Endproduct die Form erscheint, die Bedeutung der letzteren rich-
tig zu erfassen gestattet. Für die wissenschaftliche Morphologie ist
also die Morphogenesis eine nothwendige Vorbedingung, eine wirkliche
Lebensbedingung. Andererseits hat die Physiologie, wenigstens in dem
heutigen Stadium ihrer Entwickelung, an der Morphogenie ein unter-
geordnetes Interesse. Von allen Bewegungs-Erscheinungen des Orga-
nismus sind ihr diejenigen, welche die Bildung der organisirten Form
veranlassen, verhältnissmässig am Gleichgültigsten. Auf keinem Ge-
biete der Biologie ist der Zusammenhang von Stoff, Kraft und Form,
die Abhängigkeit der Form von der Function des Stoffes so wenig
ersichtlich und so ganz unbekannt, als auf dem der Morphogenie. Da-
her sind wir hier weiter als irgendwo von dem Ziele der Erklä-
rung
der Form-Veränderungen entfernt, und die gesammte Entwicke-
lungsgeschichte erscheint daher noch heutzutage so weit von einer gesetz-
lichen Begründung entfernt, dass sie weit mehr eine descriptive als
eine erklärende Disciplin ist. Schon aus diesem Grunde haben die
Physiologen das Feld der Entwickelungsgeschichte fast ganz den Mor-
phologen überlassen. Dazu kommt noch, dass die Methoden der Un-
tersuchung auf dem Gebiete der Embryologie und Palaeontologie sehr
verschieden von denjenigen sind, welche auf den übrigen Gebieten
der Physiologie vorzugsweise angewendet werden, während die Mor-
phologen mit diesen Methoden und mit dem ihnen zu unterwerfenden
Materiale weit besser vertraut sind.

Aus diesen, durch die biologische Praxis gerechtfertigten Gründen
wird im gegenwärtigen Stadium unserer wissenschaftlichen Entwicke-
lung die Morphogenie eine viel nähere Beziehung zur Morphologie,
für die sie ein Bedürfniss ist, als zur Physiologie, zu der sie eigentlich
gehört, von der sie aber höchst stiefmütterlich behandelt wird, beibe-
halten. Und selbst wenn es künftighin der Physiologie gelingen sollte,
die allgemeinen Gesetze der organischen Form-Entwickelung physio-
logisch zu erklären, d. h. die Erscheinungsreihen der Morphogenie auf
chemisch-physikalische Gesetze zurückzuführen; so würde durch diesen
grossen biologischen Fortschritt doch das innige Verhältniss der Ent-
wickelungsgeschichte zur Anatomie und ihr Abhängigkeits-Verhältniss
von der ihr übergeordneten Morphologie keineswegs gelockert werden.
Vielmehr würde durch diese innigere Verkettung der Morphogenie und
der Physiologie das jetzt sehr gelockerte Band zwischen der letzteren
und der Anatomie wieder fester geschlungen werden, und eine ein-
heitliche biologische Betrachtungsweise der Organismen wieder mehr
in den Vordergrund treten.

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VI. Morphogenie oder Entwickelungsgeschichte.
begründet, zunächst darin, dass die Kenntniss der Formentwickelung
für das Verständniss der entwickelten Form unerlässlich ist, und dass
nur die vollständige Erkenntniss der continuirlichen Bewegungen, als
deren Endproduct die Form erscheint, die Bedeutung der letzteren rich-
tig zu erfassen gestattet. Für die wissenschaftliche Morphologie ist
also die Morphogenesis eine nothwendige Vorbedingung, eine wirkliche
Lebensbedingung. Andererseits hat die Physiologie, wenigstens in dem
heutigen Stadium ihrer Entwickelung, an der Morphogenie ein unter-
geordnetes Interesse. Von allen Bewegungs-Erscheinungen des Orga-
nismus sind ihr diejenigen, welche die Bildung der organisirten Form
veranlassen, verhältnissmässig am Gleichgültigsten. Auf keinem Ge-
biete der Biologie ist der Zusammenhang von Stoff, Kraft und Form,
die Abhängigkeit der Form von der Function des Stoffes so wenig
ersichtlich und so ganz unbekannt, als auf dem der Morphogenie. Da-
her sind wir hier weiter als irgendwo von dem Ziele der Erklä-
rung
der Form-Veränderungen entfernt, und die gesammte Entwicke-
lungsgeschichte erscheint daher noch heutzutage so weit von einer gesetz-
lichen Begründung entfernt, dass sie weit mehr eine descriptive als
eine erklärende Disciplin ist. Schon aus diesem Grunde haben die
Physiologen das Feld der Entwickelungsgeschichte fast ganz den Mor-
phologen überlassen. Dazu kommt noch, dass die Methoden der Un-
tersuchung auf dem Gebiete der Embryologie und Palaeontologie sehr
verschieden von denjenigen sind, welche auf den übrigen Gebieten
der Physiologie vorzugsweise angewendet werden, während die Mor-
phologen mit diesen Methoden und mit dem ihnen zu unterwerfenden
Materiale weit besser vertraut sind.

Aus diesen, durch die biologische Praxis gerechtfertigten Gründen
wird im gegenwärtigen Stadium unserer wissenschaftlichen Entwicke-
lung die Morphogenie eine viel nähere Beziehung zur Morphologie,
für die sie ein Bedürfniss ist, als zur Physiologie, zu der sie eigentlich
gehört, von der sie aber höchst stiefmütterlich behandelt wird, beibe-
halten. Und selbst wenn es künftighin der Physiologie gelingen sollte,
die allgemeinen Gesetze der organischen Form-Entwickelung physio-
logisch zu erklären, d. h. die Erscheinungsreihen der Morphogenie auf
chemisch-physikalische Gesetze zurückzuführen; so würde durch diesen
grossen biologischen Fortschritt doch das innige Verhältniss der Ent-
wickelungsgeschichte zur Anatomie und ihr Abhängigkeits-Verhältniss
von der ihr übergeordneten Morphologie keineswegs gelockert werden.
Vielmehr würde durch diese innigere Verkettung der Morphogenie und
der Physiologie das jetzt sehr gelockerte Band zwischen der letzteren
und der Anatomie wieder fester geschlungen werden, und eine ein-
heitliche biologische Betrachtungsweise der Organismen wieder mehr
in den Vordergrund treten.

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[51/0090] VI. Morphogenie oder Entwickelungsgeschichte. begründet, zunächst darin, dass die Kenntniss der Formentwickelung für das Verständniss der entwickelten Form unerlässlich ist, und dass nur die vollständige Erkenntniss der continuirlichen Bewegungen, als deren Endproduct die Form erscheint, die Bedeutung der letzteren rich- tig zu erfassen gestattet. Für die wissenschaftliche Morphologie ist also die Morphogenesis eine nothwendige Vorbedingung, eine wirkliche Lebensbedingung. Andererseits hat die Physiologie, wenigstens in dem heutigen Stadium ihrer Entwickelung, an der Morphogenie ein unter- geordnetes Interesse. Von allen Bewegungs-Erscheinungen des Orga- nismus sind ihr diejenigen, welche die Bildung der organisirten Form veranlassen, verhältnissmässig am Gleichgültigsten. Auf keinem Ge- biete der Biologie ist der Zusammenhang von Stoff, Kraft und Form, die Abhängigkeit der Form von der Function des Stoffes so wenig ersichtlich und so ganz unbekannt, als auf dem der Morphogenie. Da- her sind wir hier weiter als irgendwo von dem Ziele der Erklä- rung der Form-Veränderungen entfernt, und die gesammte Entwicke- lungsgeschichte erscheint daher noch heutzutage so weit von einer gesetz- lichen Begründung entfernt, dass sie weit mehr eine descriptive als eine erklärende Disciplin ist. Schon aus diesem Grunde haben die Physiologen das Feld der Entwickelungsgeschichte fast ganz den Mor- phologen überlassen. Dazu kommt noch, dass die Methoden der Un- tersuchung auf dem Gebiete der Embryologie und Palaeontologie sehr verschieden von denjenigen sind, welche auf den übrigen Gebieten der Physiologie vorzugsweise angewendet werden, während die Mor- phologen mit diesen Methoden und mit dem ihnen zu unterwerfenden Materiale weit besser vertraut sind. Aus diesen, durch die biologische Praxis gerechtfertigten Gründen wird im gegenwärtigen Stadium unserer wissenschaftlichen Entwicke- lung die Morphogenie eine viel nähere Beziehung zur Morphologie, für die sie ein Bedürfniss ist, als zur Physiologie, zu der sie eigentlich gehört, von der sie aber höchst stiefmütterlich behandelt wird, beibe- halten. Und selbst wenn es künftighin der Physiologie gelingen sollte, die allgemeinen Gesetze der organischen Form-Entwickelung physio- logisch zu erklären, d. h. die Erscheinungsreihen der Morphogenie auf chemisch-physikalische Gesetze zurückzuführen; so würde durch diesen grossen biologischen Fortschritt doch das innige Verhältniss der Ent- wickelungsgeschichte zur Anatomie und ihr Abhängigkeits-Verhältniss von der ihr übergeordneten Morphologie keineswegs gelockert werden. Vielmehr würde durch diese innigere Verkettung der Morphogenie und der Physiologie das jetzt sehr gelockerte Band zwischen der letzteren und der Anatomie wieder fester geschlungen werden, und eine ein- heitliche biologische Betrachtungsweise der Organismen wieder mehr in den Vordergrund treten. 4 *

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/90>, abgerufen am 24.11.2024.