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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Promorphologische Thesen.
(Krystallen), daher auch die Zahl der verschiedenen Grundformen bei
ersteren beträchtlich grösser, als bei letzteren.
12. Die meisten (aber nicht alle!) organischen Individuen zeigen
ihre stereometrische Grundform nicht so unmittelbar deutlich und
scharf, wie die meisten (aber nicht alle!) Krystalle, was theils durch
den festflüssigen Aggregatzustand, theils durch die Variabilität, theils
durch die zusammengesetzte Individualität der meisten Organismen be-
dingt ist.
13. Durch den festflüssigen Aggregatzustand der organischen Ma-
terie werden die gekrümmten Flächen, gebogenen Linien und unmess-
baren Winkel bedingt, welche die meisten äusseren Formen der
Organismen begrenzen, und welche nicht so unmittelbar einer stren-
gen geometrischen Ausmessung und Berechnung zugänglich sind, wie
die ebenen Flächen, geraden Linien und messbaren festen Winkel,
welche die im festen Aggregatzustande befindlichen Krystalle be-
grenzen.
14. Durch den festflüssigen Aggregatzustand der organischen
Materie wird die Anpassungsfähigkeit und dadurch die Veränderlich-
keit (Variabilität) bedingt, welche die geformten Organismen von den
geformten Anorganen unterscheidet, und welche eine absolut strenge
stereometrische Erkenntniss der specifischen organischen Formen schon
wegen ihrer Inconstanz unmöglich macht.
15. Da die meisten organischen Individuen sich von den meisten
anorganischen durch ihre zusammengesetzte Individualität unterschei-
den, da der Körper bei den ersteren meist aus heterogenen, bei den
letzteren meist aus homogenen Bestandtheilen zusammengesetzt ist, so
wird auch hierdurch die Erkenntniss der stereometrischen Grundform
bei den ersteren bedeutend erschwert und complicirt.
16. Da die meisten Organismen sich entwickeln, d. h. während
ihrer individuellen Existenz als Bionten eine Reihe von Form-Verän-
derungen durchlaufen, so ist auch aus diesem Grunde eine absolute
stereometrische Erkenntniss ihrer individuellen äusseren Form (wie bei
den Krystallen) nicht möglich.
17. Obgleich aus den angeführten Gründen, insbesondere also
wegen des festflüssigen Aggregatzustandes aller Organismen, wegen
ihrer tectologischen Zusammensetzung, wegen ihrer unbegrenzten Fähig-
keit zur Anpassung und Abänderung, und wegen des Formenwechsels
im Laufe der individuellen Entwickelung, eine absolute stereometrische
Erkenntniss der organischen Formen (wie sie die Krystallographie er-
reicht) in den meisten Fällen nicht unmittelbar möglich ist, so ist den-
noch eine ganz ähnliche mathematische Betrachtung derselben durch
die Erkenntniss der idealen stereometrischen Grundform möglich, welche
denselben ebenso wie den Krystallen zu Grunde liegt.
Promorphologische Thesen.
(Krystallen), daher auch die Zahl der verschiedenen Grundformen bei
ersteren beträchtlich grösser, als bei letzteren.
12. Die meisten (aber nicht alle!) organischen Individuen zeigen
ihre stereometrische Grundform nicht so unmittelbar deutlich und
scharf, wie die meisten (aber nicht alle!) Krystalle, was theils durch
den festflüssigen Aggregatzustand, theils durch die Variabilität, theils
durch die zusammengesetzte Individualität der meisten Organismen be-
dingt ist.
13. Durch den festflüssigen Aggregatzustand der organischen Ma-
terie werden die gekrümmten Flächen, gebogenen Linien und unmess-
baren Winkel bedingt, welche die meisten äusseren Formen der
Organismen begrenzen, und welche nicht so unmittelbar einer stren-
gen geometrischen Ausmessung und Berechnung zugänglich sind, wie
die ebenen Flächen, geraden Linien und messbaren festen Winkel,
welche die im festen Aggregatzustande befindlichen Krystalle be-
grenzen.
14. Durch den festflüssigen Aggregatzustand der organischen
Materie wird die Anpassungsfähigkeit und dadurch die Veränderlich-
keit (Variabilität) bedingt, welche die geformten Organismen von den
geformten Anorganen unterscheidet, und welche eine absolut strenge
stereometrische Erkenntniss der specifischen organischen Formen schon
wegen ihrer Inconstanz unmöglich macht.
15. Da die meisten organischen Individuen sich von den meisten
anorganischen durch ihre zusammengesetzte Individualität unterschei-
den, da der Körper bei den ersteren meist aus heterogenen, bei den
letzteren meist aus homogenen Bestandtheilen zusammengesetzt ist, so
wird auch hierdurch die Erkenntniss der stereometrischen Grundform
bei den ersteren bedeutend erschwert und complicirt.
16. Da die meisten Organismen sich entwickeln, d. h. während
ihrer individuellen Existenz als Bionten eine Reihe von Form-Verän-
derungen durchlaufen, so ist auch aus diesem Grunde eine absolute
stereometrische Erkenntniss ihrer individuellen äusseren Form (wie bei
den Krystallen) nicht möglich.
17. Obgleich aus den angeführten Gründen, insbesondere also
wegen des festflüssigen Aggregatzustandes aller Organismen, wegen
ihrer tectologischen Zusammensetzung, wegen ihrer unbegrenzten Fähig-
keit zur Anpassung und Abänderung, und wegen des Formenwechsels
im Laufe der individuellen Entwickelung, eine absolute stereometrische
Erkenntniss der organischen Formen (wie sie die Krystallographie er-
reicht) in den meisten Fällen nicht unmittelbar möglich ist, so ist den-
noch eine ganz ähnliche mathematische Betrachtung derselben durch
die Erkenntniss der idealen stereometrischen Grundform möglich, welche
denselben ebenso wie den Krystallen zu Grunde liegt.
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[542/0581] Promorphologische Thesen. (Krystallen), daher auch die Zahl der verschiedenen Grundformen bei ersteren beträchtlich grösser, als bei letzteren. 12. Die meisten (aber nicht alle!) organischen Individuen zeigen ihre stereometrische Grundform nicht so unmittelbar deutlich und scharf, wie die meisten (aber nicht alle!) Krystalle, was theils durch den festflüssigen Aggregatzustand, theils durch die Variabilität, theils durch die zusammengesetzte Individualität der meisten Organismen be- dingt ist. 13. Durch den festflüssigen Aggregatzustand der organischen Ma- terie werden die gekrümmten Flächen, gebogenen Linien und unmess- baren Winkel bedingt, welche die meisten äusseren Formen der Organismen begrenzen, und welche nicht so unmittelbar einer stren- gen geometrischen Ausmessung und Berechnung zugänglich sind, wie die ebenen Flächen, geraden Linien und messbaren festen Winkel, welche die im festen Aggregatzustande befindlichen Krystalle be- grenzen. 14. Durch den festflüssigen Aggregatzustand der organischen Materie wird die Anpassungsfähigkeit und dadurch die Veränderlich- keit (Variabilität) bedingt, welche die geformten Organismen von den geformten Anorganen unterscheidet, und welche eine absolut strenge stereometrische Erkenntniss der specifischen organischen Formen schon wegen ihrer Inconstanz unmöglich macht. 15. Da die meisten organischen Individuen sich von den meisten anorganischen durch ihre zusammengesetzte Individualität unterschei- den, da der Körper bei den ersteren meist aus heterogenen, bei den letzteren meist aus homogenen Bestandtheilen zusammengesetzt ist, so wird auch hierdurch die Erkenntniss der stereometrischen Grundform bei den ersteren bedeutend erschwert und complicirt. 16. Da die meisten Organismen sich entwickeln, d. h. während ihrer individuellen Existenz als Bionten eine Reihe von Form-Verän- derungen durchlaufen, so ist auch aus diesem Grunde eine absolute stereometrische Erkenntniss ihrer individuellen äusseren Form (wie bei den Krystallen) nicht möglich. 17. Obgleich aus den angeführten Gründen, insbesondere also wegen des festflüssigen Aggregatzustandes aller Organismen, wegen ihrer tectologischen Zusammensetzung, wegen ihrer unbegrenzten Fähig- keit zur Anpassung und Abänderung, und wegen des Formenwechsels im Laufe der individuellen Entwickelung, eine absolute stereometrische Erkenntniss der organischen Formen (wie sie die Krystallographie er- reicht) in den meisten Fällen nicht unmittelbar möglich ist, so ist den- noch eine ganz ähnliche mathematische Betrachtung derselben durch die Erkenntniss der idealen stereometrischen Grundform möglich, welche denselben ebenso wie den Krystallen zu Grunde liegt.

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 542. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/581>, abgerufen am 25.11.2024.