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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Einpaarige Grundformen. Dipleura.
Körperhälfte im Wachsthum bevorzugt, und dem entsprechend das Ge-
häuse links gewunden; seltener ist es umgekehrt rechts gewunden
(Clausilia, Physa). Unter den Lamellibranchien zeigt sich die Dys-
dipleurie höchst auffallend bei den meisten Muscheln, welche mit einer
Schalenklappe festgewachsen sind (Pleuroconchae); die angewachsene
Schale ist meistens grösser und tiefer, bei Ostrea meistens die linke,
bei Spondylus die rechte; am meisten ausgezeichnet sind durch gänz-
lich verschiedene Ausbildung beider Hälften die Rudisten; doch spricht
sich ein geringerer Grad von Differenz bei den meisten Muscheln in
dem Unterschied der rechten und linken Schlosshälfte aus.

Unter den Pflanzen sind es insbesondere die eudipleuren Organe,
welche in sehr vielen Fällen in die dysdipleure Form mehr oder min-
der auffallend übergehen. So finden wir namentlich unter den Blät-
tern (Blumenblättern, Fruchtblättern, Laubblättern etc.) deren allge-
meine Grundform die eudipleure ist, sehr häufig mehr oder weniger
ausgezeichnete dysdipleure vor, so z. B. die Laubblätter von Ulmus
und vor Allen von Begonia (dem "Schiefblatt"), ferner die spiralig ge-
drehten Blumenblätter vieler Orchideen, die asymmetrischen Carpelle
vieler Früchte etc. Bei der allgemeinen Neigung zu spiraligem Wachs-
thum in dem Pflanzenreiche müssen hier dysdipleure Formen überall
da zu Stande kommen, wo dasselbe eudipleurisch angelegte Theile
betrifft.

In allen diesen Fällen zeigt uns entweder die embryologische
oder die palaeontologische Entwickelungsgeschichte, dass die beiden
ungleichen Hälften des dysdipleuren Körpers ursprünglich eudipleurisch
angelegt waren, und dass demnach die Dysdipleurie sich erst secun-
där aus der reinen Eudipleurie hervorgebildet hat. Bald ist es die
rechte, bald die linke Seite, welche (anfänglich der anderen Hälfte
aequivalent) ein überwiegendes Wachsthum gewinnt und dadurch sich
zu Ungunsten der anderen, schwächeren entwickelt. Daher kommen
auch in allen Species, wo regelmässig die rechte Hälfte die stärkere
ist, ausnahmsweise Fälle vor, in denen die linke überwiegt, und ebenso
umgekehrt. So kennt man z. B. unter den spiralig gewundenen
Schnecken mehr als fünfzig Species, welche gewöhnlich links, in ein-
zelnen Fällen aber auch rechts gedreht sind (Helix, Pupa, Bulimus,
Fusus
etc.) Dass dies ganz vom Zufall, d. h. von verhältnissmässig
unbedeutendem, mechanisch auf die Entwickelung einwirkenden Ur-
sachen (Anpassungs-Bedingungen) abhängt, zeigen am deutlichsten
die dysdipleuren Pleuronectiden, bei denen dieselbe Art, welche die
Augen gewöhnlich rechts hat, sie bisweilen auch links trägt, und in
seltenen Fällen sogar vollkommen symmetrisch vorkommt, z. B. Pleu-
ronectes maximus.



Einpaarige Grundformen. Dipleura.
Körperhälfte im Wachsthum bevorzugt, und dem entsprechend das Ge-
häuse links gewunden; seltener ist es umgekehrt rechts gewunden
(Clausilia, Physa). Unter den Lamellibranchien zeigt sich die Dys-
dipleurie höchst auffallend bei den meisten Muscheln, welche mit einer
Schalenklappe festgewachsen sind (Pleuroconchae); die angewachsene
Schale ist meistens grösser und tiefer, bei Ostrea meistens die linke,
bei Spondylus die rechte; am meisten ausgezeichnet sind durch gänz-
lich verschiedene Ausbildung beider Hälften die Rudisten; doch spricht
sich ein geringerer Grad von Differenz bei den meisten Muscheln in
dem Unterschied der rechten und linken Schlosshälfte aus.

Unter den Pflanzen sind es insbesondere die eudipleuren Organe,
welche in sehr vielen Fällen in die dysdipleure Form mehr oder min-
der auffallend übergehen. So finden wir namentlich unter den Blät-
tern (Blumenblättern, Fruchtblättern, Laubblättern etc.) deren allge-
meine Grundform die eudipleure ist, sehr häufig mehr oder weniger
ausgezeichnete dysdipleure vor, so z. B. die Laubblätter von Ulmus
und vor Allen von Begonia (dem „Schiefblatt“), ferner die spiralig ge-
drehten Blumenblätter vieler Orchideen, die asymmetrischen Carpelle
vieler Früchte etc. Bei der allgemeinen Neigung zu spiraligem Wachs-
thum in dem Pflanzenreiche müssen hier dysdipleure Formen überall
da zu Stande kommen, wo dasselbe eudipleurisch angelegte Theile
betrifft.

In allen diesen Fällen zeigt uns entweder die embryologische
oder die palaeontologische Entwickelungsgeschichte, dass die beiden
ungleichen Hälften des dysdipleuren Körpers ursprünglich eudipleurisch
angelegt waren, und dass demnach die Dysdipleurie sich erst secun-
där aus der reinen Eudipleurie hervorgebildet hat. Bald ist es die
rechte, bald die linke Seite, welche (anfänglich der anderen Hälfte
aequivalent) ein überwiegendes Wachsthum gewinnt und dadurch sich
zu Ungunsten der anderen, schwächeren entwickelt. Daher kommen
auch in allen Species, wo regelmässig die rechte Hälfte die stärkere
ist, ausnahmsweise Fälle vor, in denen die linke überwiegt, und ebenso
umgekehrt. So kennt man z. B. unter den spiralig gewundenen
Schnecken mehr als fünfzig Species, welche gewöhnlich links, in ein-
zelnen Fällen aber auch rechts gedreht sind (Helix, Pupa, Bulimus,
Fusus
etc.) Dass dies ganz vom Zufall, d. h. von verhältnissmässig
unbedeutendem, mechanisch auf die Entwickelung einwirkenden Ur-
sachen (Anpassungs-Bedingungen) abhängt, zeigen am deutlichsten
die dysdipleuren Pleuronectiden, bei denen dieselbe Art, welche die
Augen gewöhnlich rechts hat, sie bisweilen auch links trägt, und in
seltenen Fällen sogar vollkommen symmetrisch vorkommt, z. B. Pleu-
ronectes maximus.



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[527/0566] Einpaarige Grundformen. Dipleura. Körperhälfte im Wachsthum bevorzugt, und dem entsprechend das Ge- häuse links gewunden; seltener ist es umgekehrt rechts gewunden (Clausilia, Physa). Unter den Lamellibranchien zeigt sich die Dys- dipleurie höchst auffallend bei den meisten Muscheln, welche mit einer Schalenklappe festgewachsen sind (Pleuroconchae); die angewachsene Schale ist meistens grösser und tiefer, bei Ostrea meistens die linke, bei Spondylus die rechte; am meisten ausgezeichnet sind durch gänz- lich verschiedene Ausbildung beider Hälften die Rudisten; doch spricht sich ein geringerer Grad von Differenz bei den meisten Muscheln in dem Unterschied der rechten und linken Schlosshälfte aus. Unter den Pflanzen sind es insbesondere die eudipleuren Organe, welche in sehr vielen Fällen in die dysdipleure Form mehr oder min- der auffallend übergehen. So finden wir namentlich unter den Blät- tern (Blumenblättern, Fruchtblättern, Laubblättern etc.) deren allge- meine Grundform die eudipleure ist, sehr häufig mehr oder weniger ausgezeichnete dysdipleure vor, so z. B. die Laubblätter von Ulmus und vor Allen von Begonia (dem „Schiefblatt“), ferner die spiralig ge- drehten Blumenblätter vieler Orchideen, die asymmetrischen Carpelle vieler Früchte etc. Bei der allgemeinen Neigung zu spiraligem Wachs- thum in dem Pflanzenreiche müssen hier dysdipleure Formen überall da zu Stande kommen, wo dasselbe eudipleurisch angelegte Theile betrifft. In allen diesen Fällen zeigt uns entweder die embryologische oder die palaeontologische Entwickelungsgeschichte, dass die beiden ungleichen Hälften des dysdipleuren Körpers ursprünglich eudipleurisch angelegt waren, und dass demnach die Dysdipleurie sich erst secun- där aus der reinen Eudipleurie hervorgebildet hat. Bald ist es die rechte, bald die linke Seite, welche (anfänglich der anderen Hälfte aequivalent) ein überwiegendes Wachsthum gewinnt und dadurch sich zu Ungunsten der anderen, schwächeren entwickelt. Daher kommen auch in allen Species, wo regelmässig die rechte Hälfte die stärkere ist, ausnahmsweise Fälle vor, in denen die linke überwiegt, und ebenso umgekehrt. So kennt man z. B. unter den spiralig gewundenen Schnecken mehr als fünfzig Species, welche gewöhnlich links, in ein- zelnen Fällen aber auch rechts gedreht sind (Helix, Pupa, Bulimus, Fusus etc.) Dass dies ganz vom Zufall, d. h. von verhältnissmässig unbedeutendem, mechanisch auf die Entwickelung einwirkenden Ur- sachen (Anpassungs-Bedingungen) abhängt, zeigen am deutlichsten die dysdipleuren Pleuronectiden, bei denen dieselbe Art, welche die Augen gewöhnlich rechts hat, sie bisweilen auch links trägt, und in seltenen Fällen sogar vollkommen symmetrisch vorkommt, z. B. Pleu- ronectes maximus.

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 527. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/566>, abgerufen am 25.11.2024.