noch das Andere, sondern ein willkührliches Gemisch von Beiden, und daher entspringt die allgemeine Confusion und die auffallenden Wider- sprüche, welche gegenwärtig selbst über die wichtigsten und alltäg- lichen morphologischen Begriffe herrschen. Man denke nur an die "Wasserlungen" der Holothurien! So ist es nicht allein mit den ein- zelnen Organen, sondern auch mit den Regionen des Körpers und mit den Seiten, welche seine Oberflächen begrenzen.
Nichts hat in dieser Beziehung die klaren promorphologischen Grundverhältnisse mehr verhüllt, als die mangelhafte Unterscheidung der Axen und ihrer Pole und eine willkührlich wechselnde Benennung derselben. Die Ausdrücke Vorn und Hinten, Oben und Unten z. B. werden hier sehr allgemein statt der Bezeichnungen Oral und Aboral, Dorsal und Ventral gebraucht. Ebenso bedient man sich oft der Ausdrücke horizontale und verticale Axe statt longitudinale und dorso- ventrale Axe. Die ersteren Bezeichnungen sind aber aus der allgemei- nen Morphologie ganz zu verbannen, da sie physiologischen Ursprungs sind und sich wesentlich auf die Bewegungsrichtung des Organismus oder auf die Stellung, welche derselbe zur Erdaxe oder zum Horizont gewöhnlich einnimmt, beziehen. Diese ist eben bei verschiedenen Arten eine ganz verschiedene, und selbst bei einem und demselben Individuum zu verschiedenen Zeiten seines Lebens ganz entgegen- gesetzt, während die morphologischen Beziehungen der Körpertheile zu einander constant sind, und also allein als Basis der Orismologie dienen können. So z. B. ist dieselbe Axe (Hauptaxe oder Längsaxe), welche beim Menschen, beim Pinguin, bei den Seeigeln und Seester- nen, bei den festsitzenden Mollusken und Strahlthieren vertical steht, umgekehrt horizontal bei den meisten frei beweglichen Thieren und den kriechenden Pflanzen. Der erste Pol dieser Axe, der orale oder Mundpol (Peristomium), liegt vorn bei den meisten frei beweglichen, hinten bei den rückwärts kriechenden Thieren, oben bei den meisten festsitzenden Thieren und Pflanzen, unten bei den kriechenden Cepha- lopoden, Seeigeln, Seesternen etc. Bei den Holothurien, welche zu- erst auf der Mundseite mit verticaler Hauptaxe, später auf der Bauch- seite mit horizontaler Hauptaxe kriechen, ist die Peristomseite, welche anfangs die untere ist, nachher die vordere, und die Antistomseite, welche zuerst die obere ist, später die hintere. Bei den Cephalopoden ist der Kopf unten und die Hauptaxe vertical, wenn sie kriechen, da- dagegen der Kopf hinten und die Hauptaxe horizontal, wenn sie schwimmen.
Diese wenigen Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, dass es wirklich ganz unmöglich ist, die physiologischen Bezeichnungen Vorn und Hinten, Oben und Unten etc. in der Weise, wie es noch jetzt allgemein in der Morphologie geschieht, beizubehalten, ohne die
Begriff und Aufgabe der Promorphologie.
noch das Andere, sondern ein willkührliches Gemisch von Beiden, und daher entspringt die allgemeine Confusion und die auffallenden Wider- sprüche, welche gegenwärtig selbst über die wichtigsten und alltäg- lichen morphologischen Begriffe herrschen. Man denke nur an die „Wasserlungen“ der Holothurien! So ist es nicht allein mit den ein- zelnen Organen, sondern auch mit den Regionen des Körpers und mit den Seiten, welche seine Oberflächen begrenzen.
Nichts hat in dieser Beziehung die klaren promorphologischen Grundverhältnisse mehr verhüllt, als die mangelhafte Unterscheidung der Axen und ihrer Pole und eine willkührlich wechselnde Benennung derselben. Die Ausdrücke Vorn und Hinten, Oben und Unten z. B. werden hier sehr allgemein statt der Bezeichnungen Oral und Aboral, Dorsal und Ventral gebraucht. Ebenso bedient man sich oft der Ausdrücke horizontale und verticale Axe statt longitudinale und dorso- ventrale Axe. Die ersteren Bezeichnungen sind aber aus der allgemei- nen Morphologie ganz zu verbannen, da sie physiologischen Ursprungs sind und sich wesentlich auf die Bewegungsrichtung des Organismus oder auf die Stellung, welche derselbe zur Erdaxe oder zum Horizont gewöhnlich einnimmt, beziehen. Diese ist eben bei verschiedenen Arten eine ganz verschiedene, und selbst bei einem und demselben Individuum zu verschiedenen Zeiten seines Lebens ganz entgegen- gesetzt, während die morphologischen Beziehungen der Körpertheile zu einander constant sind, und also allein als Basis der Orismologie dienen können. So z. B. ist dieselbe Axe (Hauptaxe oder Längsaxe), welche beim Menschen, beim Pinguin, bei den Seeigeln und Seester- nen, bei den festsitzenden Mollusken und Strahlthieren vertical steht, umgekehrt horizontal bei den meisten frei beweglichen Thieren und den kriechenden Pflanzen. Der erste Pol dieser Axe, der orale oder Mundpol (Peristomium), liegt vorn bei den meisten frei beweglichen, hinten bei den rückwärts kriechenden Thieren, oben bei den meisten festsitzenden Thieren und Pflanzen, unten bei den kriechenden Cepha- lopoden, Seeigeln, Seesternen etc. Bei den Holothurien, welche zu- erst auf der Mundseite mit verticaler Hauptaxe, später auf der Bauch- seite mit horizontaler Hauptaxe kriechen, ist die Peristomseite, welche anfangs die untere ist, nachher die vordere, und die Antistomseite, welche zuerst die obere ist, später die hintere. Bei den Cephalopoden ist der Kopf unten und die Hauptaxe vertical, wenn sie kriechen, da- dagegen der Kopf hinten und die Hauptaxe horizontal, wenn sie schwimmen.
Diese wenigen Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, dass es wirklich ganz unmöglich ist, die physiologischen Bezeichnungen Vorn und Hinten, Oben und Unten etc. in der Weise, wie es noch jetzt allgemein in der Morphologie geschieht, beizubehalten, ohne die
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Begriff und Aufgabe der Promorphologie.
noch das Andere, sondern ein willkührliches Gemisch von Beiden, und
daher entspringt die allgemeine Confusion und die auffallenden Wider-
sprüche, welche gegenwärtig selbst über die wichtigsten und alltäg-
lichen morphologischen Begriffe herrschen. Man denke nur an die
„Wasserlungen“ der Holothurien! So ist es nicht allein mit den ein-
zelnen Organen, sondern auch mit den Regionen des Körpers und mit
den Seiten, welche seine Oberflächen begrenzen.
Nichts hat in dieser Beziehung die klaren promorphologischen
Grundverhältnisse mehr verhüllt, als die mangelhafte Unterscheidung
der Axen und ihrer Pole und eine willkührlich wechselnde Benennung
derselben. Die Ausdrücke Vorn und Hinten, Oben und Unten z. B.
werden hier sehr allgemein statt der Bezeichnungen Oral und Aboral,
Dorsal und Ventral gebraucht. Ebenso bedient man sich oft der
Ausdrücke horizontale und verticale Axe statt longitudinale und dorso-
ventrale Axe. Die ersteren Bezeichnungen sind aber aus der allgemei-
nen Morphologie ganz zu verbannen, da sie physiologischen Ursprungs
sind und sich wesentlich auf die Bewegungsrichtung des Organismus
oder auf die Stellung, welche derselbe zur Erdaxe oder zum Horizont
gewöhnlich einnimmt, beziehen. Diese ist eben bei verschiedenen
Arten eine ganz verschiedene, und selbst bei einem und demselben
Individuum zu verschiedenen Zeiten seines Lebens ganz entgegen-
gesetzt, während die morphologischen Beziehungen der Körpertheile
zu einander constant sind, und also allein als Basis der Orismologie
dienen können. So z. B. ist dieselbe Axe (Hauptaxe oder Längsaxe),
welche beim Menschen, beim Pinguin, bei den Seeigeln und Seester-
nen, bei den festsitzenden Mollusken und Strahlthieren vertical steht,
umgekehrt horizontal bei den meisten frei beweglichen Thieren und
den kriechenden Pflanzen. Der erste Pol dieser Axe, der orale oder
Mundpol (Peristomium), liegt vorn bei den meisten frei beweglichen,
hinten bei den rückwärts kriechenden Thieren, oben bei den meisten
festsitzenden Thieren und Pflanzen, unten bei den kriechenden Cepha-
lopoden, Seeigeln, Seesternen etc. Bei den Holothurien, welche zu-
erst auf der Mundseite mit verticaler Hauptaxe, später auf der Bauch-
seite mit horizontaler Hauptaxe kriechen, ist die Peristomseite, welche
anfangs die untere ist, nachher die vordere, und die Antistomseite,
welche zuerst die obere ist, später die hintere. Bei den Cephalopoden
ist der Kopf unten und die Hauptaxe vertical, wenn sie kriechen, da-
dagegen der Kopf hinten und die Hauptaxe horizontal, wenn sie
schwimmen.
Diese wenigen Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, dass es
wirklich ganz unmöglich ist, die physiologischen Bezeichnungen
Vorn und Hinten, Oben und Unten etc. in der Weise, wie es noch
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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 398. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/437>, abgerufen am 23.11.2024.
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