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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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VII. Systematische Bedeutung der Grundformen.
rücksichtigt, finden wir hier in einem und demselben Stamme, z. B.
bei den Coelenteraten, eine ganze Reihe von verschiedenen Grund-
formen neben einander vor.

In noch weit höherem Grade wird dies durch die Protisten be-
wiesen. Unter diesen und insbesondere unter dem gestaltenreichen
Stamme der Rhizopoden kommen die verschiedensten Grundformen
neben einander, und zwar bei sonst nächstverwandten Thierarten vor,
die einer und derselben Familie, oft selbst einer und derselben Gat-
tung angehören. Die vielgestaltige Classe der Radiolarien umfasst mehr
verschiedene organische Grundformen, als sonst im ganzen Thier-
reiche überhaupt vorkommen. Der Name Amorphozoen, mit dem ziem-
lich häufig die Protozoen, und insbesondere die Rhizopoden und
Infusorien bezeichnet werden, konnte in dieser Beziehung nicht un-
passender gewählt werden. Nichts ist irriger, als die gebräuchliche
Angabe, dass die Grundform der Rhizopoden und der Protozoen über-
haupt nicht zu bestimmen, ohne bestimmte Grundlage oder ganz
unregelmässig sei. Gerade unter diesen niedersten Protisten begegnen
wir reineren und weit leichter auf geometrische Formen zu reduciren-
den Gestalten, diese sind regelmässiger, fester, von schärferen Linien
und einfacheren Flächen begrenzt, als es in den meisten höheren
Thierklassen der Fall ist. Wollte man die Protozoen, und die Rhizo-
poden insbesondere, ihrer Grundform nach bezeichnen, so wäre der
Ausdruck Myriomorpha oder Polymorphozoa weit besser als der
Name Amorphozoa. Es sind nicht die formlosesten, sondern die
formreichsten Körper der gesammten Organismen-Welt.

Wenn man diesen letzteren Umstand gehörig würdigt, gelangt
man auch zur Einsicht in eine andere wesentliche Ursache, welche
bisher eine selbstständige Entwickelung der Promorphologie verhin-
dert hat. Offenbar liegt diese darin, dass die bisherigen Morphologen
viel zu wenig die Organismen der niedrigsten Stufen berücksichtigt
und fast ausschliesslich die höher organisirten Formen, einerseits
Coelenteraten und Echinodermen, andererseits Mollusken, Würmer,
Gliederfüsser und Wirbelthiere in den Kreis der Betrachtung gezogen
haben. Hätte man, statt die Rhizopoden, Infusorien und übrigen Pro-
tozoen unter dem Collectivbegriff der "formlosen" Thiere zusammen-
zufassen, die einzelnen, meist so auffallenden Formen derselben etwas
genauer betrachtet, und was gerade hier eben so leicht als lohnend
ist, die geometrische Grundform derselben zu abstrahiren versucht,
man würde sicher schon längst zu ganz anderen Einblicken in die
vielfältigen Grundformen des Thierreiches gelangt sein, als sie durch
die ganz schematische Scheidung in axenlose irreguläre, einaxige
reguläre und zweiaxige symmetrische Thiere gewährt werden. Schon
allein die sehr regelmässigeu und scharf umschriebenen Formen der

VII. Systematische Bedeutung der Grundformen.
rücksichtigt, finden wir hier in einem und demselben Stamme, z. B.
bei den Coelenteraten, eine ganze Reihe von verschiedenen Grund-
formen neben einander vor.

In noch weit höherem Grade wird dies durch die Protisten be-
wiesen. Unter diesen und insbesondere unter dem gestaltenreichen
Stamme der Rhizopoden kommen die verschiedensten Grundformen
neben einander, und zwar bei sonst nächstverwandten Thierarten vor,
die einer und derselben Familie, oft selbst einer und derselben Gat-
tung angehören. Die vielgestaltige Classe der Radiolarien umfasst mehr
verschiedene organische Grundformen, als sonst im ganzen Thier-
reiche überhaupt vorkommen. Der Name Amorphozoen, mit dem ziem-
lich häufig die Protozoen, und insbesondere die Rhizopoden und
Infusorien bezeichnet werden, konnte in dieser Beziehung nicht un-
passender gewählt werden. Nichts ist irriger, als die gebräuchliche
Angabe, dass die Grundform der Rhizopoden und der Protozoen über-
haupt nicht zu bestimmen, ohne bestimmte Grundlage oder ganz
unregelmässig sei. Gerade unter diesen niedersten Protisten begegnen
wir reineren und weit leichter auf geometrische Formen zu reduciren-
den Gestalten, diese sind regelmässiger, fester, von schärferen Linien
und einfacheren Flächen begrenzt, als es in den meisten höheren
Thierklassen der Fall ist. Wollte man die Protozoen, und die Rhizo-
poden insbesondere, ihrer Grundform nach bezeichnen, so wäre der
Ausdruck Myriomorpha oder Polymorphozoa weit besser als der
Name Amorphozoa. Es sind nicht die formlosesten, sondern die
formreichsten Körper der gesammten Organismen-Welt.

Wenn man diesen letzteren Umstand gehörig würdigt, gelangt
man auch zur Einsicht in eine andere wesentliche Ursache, welche
bisher eine selbstständige Entwickelung der Promorphologie verhin-
dert hat. Offenbar liegt diese darin, dass die bisherigen Morphologen
viel zu wenig die Organismen der niedrigsten Stufen berücksichtigt
und fast ausschliesslich die höher organisirten Formen, einerseits
Coelenteraten und Echinodermen, andererseits Mollusken, Würmer,
Gliederfüsser und Wirbelthiere in den Kreis der Betrachtung gezogen
haben. Hätte man, statt die Rhizopoden, Infusorien und übrigen Pro-
tozoen unter dem Collectivbegriff der „formlosen“ Thiere zusammen-
zufassen, die einzelnen, meist so auffallenden Formen derselben etwas
genauer betrachtet, und was gerade hier eben so leicht als lohnend
ist, die geometrische Grundform derselben zu abstrahiren versucht,
man würde sicher schon längst zu ganz anderen Einblicken in die
vielfältigen Grundformen des Thierreiches gelangt sein, als sie durch
die ganz schematische Scheidung in axenlose irreguläre, einaxige
reguläre und zweiaxige symmetrische Thiere gewährt werden. Schon
allein die sehr regelmässigeu und scharf umschriebenen Formen der

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[395/0434] VII. Systematische Bedeutung der Grundformen. rücksichtigt, finden wir hier in einem und demselben Stamme, z. B. bei den Coelenteraten, eine ganze Reihe von verschiedenen Grund- formen neben einander vor. In noch weit höherem Grade wird dies durch die Protisten be- wiesen. Unter diesen und insbesondere unter dem gestaltenreichen Stamme der Rhizopoden kommen die verschiedensten Grundformen neben einander, und zwar bei sonst nächstverwandten Thierarten vor, die einer und derselben Familie, oft selbst einer und derselben Gat- tung angehören. Die vielgestaltige Classe der Radiolarien umfasst mehr verschiedene organische Grundformen, als sonst im ganzen Thier- reiche überhaupt vorkommen. Der Name Amorphozoen, mit dem ziem- lich häufig die Protozoen, und insbesondere die Rhizopoden und Infusorien bezeichnet werden, konnte in dieser Beziehung nicht un- passender gewählt werden. Nichts ist irriger, als die gebräuchliche Angabe, dass die Grundform der Rhizopoden und der Protozoen über- haupt nicht zu bestimmen, ohne bestimmte Grundlage oder ganz unregelmässig sei. Gerade unter diesen niedersten Protisten begegnen wir reineren und weit leichter auf geometrische Formen zu reduciren- den Gestalten, diese sind regelmässiger, fester, von schärferen Linien und einfacheren Flächen begrenzt, als es in den meisten höheren Thierklassen der Fall ist. Wollte man die Protozoen, und die Rhizo- poden insbesondere, ihrer Grundform nach bezeichnen, so wäre der Ausdruck Myriomorpha oder Polymorphozoa weit besser als der Name Amorphozoa. Es sind nicht die formlosesten, sondern die formreichsten Körper der gesammten Organismen-Welt. Wenn man diesen letzteren Umstand gehörig würdigt, gelangt man auch zur Einsicht in eine andere wesentliche Ursache, welche bisher eine selbstständige Entwickelung der Promorphologie verhin- dert hat. Offenbar liegt diese darin, dass die bisherigen Morphologen viel zu wenig die Organismen der niedrigsten Stufen berücksichtigt und fast ausschliesslich die höher organisirten Formen, einerseits Coelenteraten und Echinodermen, andererseits Mollusken, Würmer, Gliederfüsser und Wirbelthiere in den Kreis der Betrachtung gezogen haben. Hätte man, statt die Rhizopoden, Infusorien und übrigen Pro- tozoen unter dem Collectivbegriff der „formlosen“ Thiere zusammen- zufassen, die einzelnen, meist so auffallenden Formen derselben etwas genauer betrachtet, und was gerade hier eben so leicht als lohnend ist, die geometrische Grundform derselben zu abstrahiren versucht, man würde sicher schon längst zu ganz anderen Einblicken in die vielfältigen Grundformen des Thierreiches gelangt sein, als sie durch die ganz schematische Scheidung in axenlose irreguläre, einaxige reguläre und zweiaxige symmetrische Thiere gewährt werden. Schon allein die sehr regelmässigeu und scharf umschriebenen Formen der

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 395. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/434>, abgerufen am 27.11.2024.