Erstes Capitel. Begriff und Aufgabe der Morphologie der Organismen.
"Weil ich für mich und Andere einen freieren Spielraum in der Naturwissenschaft, als man uns bisher gegönnt, zu erringen wünsche, so darf man mir und den Gleichgesinnten keineswegs verargen, wenn wir dasjenige, was unseren rechtmässigen For- derungen entgegensteht, scharf bezeichnen und uns nicht mehr gefallen lassen, was man seit so vielen Jahren herkömmlich gegen uns verübte." Goethe.
Die Morphologie oder Formenlehre der Organismen ist die gesammte Wissenschaft von den inneren und äusseren Formenverhältnissen der belebten Naturkörper, der Thiere und Pflanzen, im weitesten Sinne des Wortes. Die Aufgabe der organischen Morphologie ist mithin die Erkenntniss und die Erklärung dieser Formenverhältnisse, d. h. die Zurückführung ihrer Erscheinung auf bestimmte Naturgesetze.
Wenn die Morphologie ihre eigentliche Aufgabe erkennt und eine Wissenschaft sein will, so darf sie sich nicht begnügen mit der Kennt- niss der Formen, sondern sie muss ihre Erkenntniss und ihre Er- klärung erstreben, sie muss nach den Gesetzen suchen, nach denen die Formen gebildet sind. Es muss diese hohe Aufgabe unserer Wis- senschaft desshalb hier gleich beim Eintritt in dieselbe ausdrücklich hervorgehoben werden, weil eine entgegengesetzte irrige Ansicht von derselben weit verbreitet, ja selbst heutzutage noch die bei weitem vorherrschende ist. Die grosse Mehrzahl der Naturforscher, welche sich mit den Formen der Organismen beschäftigen, Zoologen sowohl, als Botaniker, begnügt sich mit der blossen Kenntniss derselben; sie sucht die unendlich mannichfaltigen Formen, die äusseren und in- neren Gestaltungs-Verhältnisse der thierischen und pflanzlichen Körper auf und ergötzt sich an ihrer Schönheit, bewundert ihre Mannichfaltig- keit und erstaunt über ihre Zweckmässigkeit; sie beschreibt und unter-
1*
Erstes Capitel. Begriff und Aufgabe der Morphologie der Organismen.
„Weil ich für mich und Andere einen freieren Spielraum in der Naturwissenschaft, als man uns bisher gegönnt, zu erringen wünsche, so darf man mir und den Gleichgesinnten keineswegs verargen, wenn wir dasjenige, was unseren rechtmässigen For- derungen entgegensteht, scharf bezeichnen und uns nicht mehr gefallen lassen, was man seit so vielen Jahren herkömmlich gegen uns verübte.“ Goethe.
Die Morphologie oder Formenlehre der Organismen ist die gesammte Wissenschaft von den inneren und äusseren Formenverhältnissen der belebten Naturkörper, der Thiere und Pflanzen, im weitesten Sinne des Wortes. Die Aufgabe der organischen Morphologie ist mithin die Erkenntniss und die Erklärung dieser Formenverhältnisse, d. h. die Zurückführung ihrer Erscheinung auf bestimmte Naturgesetze.
Wenn die Morphologie ihre eigentliche Aufgabe erkennt und eine Wissenschaft sein will, so darf sie sich nicht begnügen mit der Kennt- niss der Formen, sondern sie muss ihre Erkenntniss und ihre Er- klärung erstreben, sie muss nach den Gesetzen suchen, nach denen die Formen gebildet sind. Es muss diese hohe Aufgabe unserer Wis- senschaft desshalb hier gleich beim Eintritt in dieselbe ausdrücklich hervorgehoben werden, weil eine entgegengesetzte irrige Ansicht von derselben weit verbreitet, ja selbst heutzutage noch die bei weitem vorherrschende ist. Die grosse Mehrzahl der Naturforscher, welche sich mit den Formen der Organismen beschäftigen, Zoologen sowohl, als Botaniker, begnügt sich mit der blossen Kenntniss derselben; sie sucht die unendlich mannichfaltigen Formen, die äusseren und in- neren Gestaltungs-Verhältnisse der thierischen und pflanzlichen Körper auf und ergötzt sich an ihrer Schönheit, bewundert ihre Mannichfaltig- keit und erstaunt über ihre Zweckmässigkeit; sie beschreibt und unter-
1*
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0042"n="[3]"/><divn="2"><head><hirendition="#b">Erstes Capitel.</hi><lb/>
Begriff und Aufgabe der Morphologie der Organismen.</head><lb/><cit><quote><hirendition="#et">„Weil ich für mich und Andere einen freieren Spielraum in<lb/>
der Naturwissenschaft, als man uns bisher gegönnt, zu erringen<lb/>
wünsche, so darf man mir und den Gleichgesinnten keineswegs<lb/>
verargen, wenn wir dasjenige, was unseren rechtmässigen For-<lb/>
derungen entgegensteht, scharf bezeichnen und uns nicht mehr<lb/>
gefallen lassen, was man seit so vielen Jahren herkömmlich gegen<lb/>
uns verübte.“<hirendition="#g">Goethe</hi>.</hi></quote></cit><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p><hirendition="#in">D</hi><hirendition="#g">ie Morphologie oder Formenlehre der Organismen ist<lb/>
die gesammte Wissenschaft von den inneren und äusseren<lb/>
Formenverhältnissen der belebten Naturkörper,</hi> der Thiere<lb/>
und Pflanzen, im weitesten Sinne des Wortes. <hirendition="#g">Die Aufgabe der<lb/>
organischen Morphologie ist mithin die Erkenntniss und die<lb/>
Erklärung dieser Formenverhältnisse,</hi> d. h. die Zurückführung<lb/>
ihrer Erscheinung auf bestimmte Naturgesetze.</p><lb/><p>Wenn die Morphologie ihre eigentliche Aufgabe erkennt und eine<lb/>
Wissenschaft sein will, so darf sie sich nicht begnügen mit der <hirendition="#g">Kennt-<lb/>
niss</hi> der Formen, sondern sie muss ihre <hirendition="#g">Erkenntniss</hi> und ihre <hirendition="#g">Er-<lb/>
klärung</hi> erstreben, sie muss nach den <hirendition="#g">Gesetzen</hi> suchen, nach denen<lb/>
die Formen gebildet sind. Es muss diese hohe Aufgabe unserer Wis-<lb/>
senschaft desshalb hier gleich beim Eintritt in dieselbe ausdrücklich<lb/>
hervorgehoben werden, weil eine entgegengesetzte irrige Ansicht von<lb/>
derselben weit verbreitet, ja selbst heutzutage noch die bei weitem<lb/>
vorherrschende ist. Die grosse Mehrzahl der Naturforscher, welche<lb/>
sich mit den Formen der Organismen beschäftigen, Zoologen sowohl,<lb/>
als Botaniker, begnügt sich mit der blossen <hirendition="#g">Kenntniss</hi> derselben;<lb/>
sie sucht die unendlich mannichfaltigen Formen, die äusseren und in-<lb/>
neren Gestaltungs-Verhältnisse der thierischen und pflanzlichen Körper<lb/>
auf und ergötzt sich an ihrer Schönheit, bewundert ihre Mannichfaltig-<lb/>
keit und erstaunt über ihre Zweckmässigkeit; sie beschreibt und unter-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">1*</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[[3]/0042]
Erstes Capitel.
Begriff und Aufgabe der Morphologie der Organismen.
„Weil ich für mich und Andere einen freieren Spielraum in
der Naturwissenschaft, als man uns bisher gegönnt, zu erringen
wünsche, so darf man mir und den Gleichgesinnten keineswegs
verargen, wenn wir dasjenige, was unseren rechtmässigen For-
derungen entgegensteht, scharf bezeichnen und uns nicht mehr
gefallen lassen, was man seit so vielen Jahren herkömmlich gegen
uns verübte.“ Goethe.
Die Morphologie oder Formenlehre der Organismen ist
die gesammte Wissenschaft von den inneren und äusseren
Formenverhältnissen der belebten Naturkörper, der Thiere
und Pflanzen, im weitesten Sinne des Wortes. Die Aufgabe der
organischen Morphologie ist mithin die Erkenntniss und die
Erklärung dieser Formenverhältnisse, d. h. die Zurückführung
ihrer Erscheinung auf bestimmte Naturgesetze.
Wenn die Morphologie ihre eigentliche Aufgabe erkennt und eine
Wissenschaft sein will, so darf sie sich nicht begnügen mit der Kennt-
niss der Formen, sondern sie muss ihre Erkenntniss und ihre Er-
klärung erstreben, sie muss nach den Gesetzen suchen, nach denen
die Formen gebildet sind. Es muss diese hohe Aufgabe unserer Wis-
senschaft desshalb hier gleich beim Eintritt in dieselbe ausdrücklich
hervorgehoben werden, weil eine entgegengesetzte irrige Ansicht von
derselben weit verbreitet, ja selbst heutzutage noch die bei weitem
vorherrschende ist. Die grosse Mehrzahl der Naturforscher, welche
sich mit den Formen der Organismen beschäftigen, Zoologen sowohl,
als Botaniker, begnügt sich mit der blossen Kenntniss derselben;
sie sucht die unendlich mannichfaltigen Formen, die äusseren und in-
neren Gestaltungs-Verhältnisse der thierischen und pflanzlichen Körper
auf und ergötzt sich an ihrer Schönheit, bewundert ihre Mannichfaltig-
keit und erstaunt über ihre Zweckmässigkeit; sie beschreibt und unter-
1*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. [3]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/42>, abgerufen am 11.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.