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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Erstes Capitel.
Begriff und Aufgabe der Morphologie der Organismen.
"Weil ich für mich und Andere einen freieren Spielraum in
der Naturwissenschaft, als man uns bisher gegönnt, zu erringen
wünsche, so darf man mir und den Gleichgesinnten keineswegs
verargen, wenn wir dasjenige, was unseren rechtmässigen For-
derungen entgegensteht, scharf bezeichnen und uns nicht mehr
gefallen lassen, was man seit so vielen Jahren herkömmlich gegen
uns verübte." Goethe.



Die Morphologie oder Formenlehre der Organismen ist
die gesammte Wissenschaft von den inneren und äusseren
Formenverhältnissen der belebten Naturkörper,
der Thiere
und Pflanzen, im weitesten Sinne des Wortes. Die Aufgabe der
organischen Morphologie ist mithin die Erkenntniss und die
Erklärung dieser Formenverhältnisse,
d. h. die Zurückführung
ihrer Erscheinung auf bestimmte Naturgesetze.

Wenn die Morphologie ihre eigentliche Aufgabe erkennt und eine
Wissenschaft sein will, so darf sie sich nicht begnügen mit der Kennt-
niss
der Formen, sondern sie muss ihre Erkenntniss und ihre Er-
klärung
erstreben, sie muss nach den Gesetzen suchen, nach denen
die Formen gebildet sind. Es muss diese hohe Aufgabe unserer Wis-
senschaft desshalb hier gleich beim Eintritt in dieselbe ausdrücklich
hervorgehoben werden, weil eine entgegengesetzte irrige Ansicht von
derselben weit verbreitet, ja selbst heutzutage noch die bei weitem
vorherrschende ist. Die grosse Mehrzahl der Naturforscher, welche
sich mit den Formen der Organismen beschäftigen, Zoologen sowohl,
als Botaniker, begnügt sich mit der blossen Kenntniss derselben;
sie sucht die unendlich mannichfaltigen Formen, die äusseren und in-
neren Gestaltungs-Verhältnisse der thierischen und pflanzlichen Körper
auf und ergötzt sich an ihrer Schönheit, bewundert ihre Mannichfaltig-
keit und erstaunt über ihre Zweckmässigkeit; sie beschreibt und unter-

1*
Erstes Capitel.
Begriff und Aufgabe der Morphologie der Organismen.
„Weil ich für mich und Andere einen freieren Spielraum in
der Naturwissenschaft, als man uns bisher gegönnt, zu erringen
wünsche, so darf man mir und den Gleichgesinnten keineswegs
verargen, wenn wir dasjenige, was unseren rechtmässigen For-
derungen entgegensteht, scharf bezeichnen und uns nicht mehr
gefallen lassen, was man seit so vielen Jahren herkömmlich gegen
uns verübte.“ Goethe.



Die Morphologie oder Formenlehre der Organismen ist
die gesammte Wissenschaft von den inneren und äusseren
Formenverhältnissen der belebten Naturkörper,
der Thiere
und Pflanzen, im weitesten Sinne des Wortes. Die Aufgabe der
organischen Morphologie ist mithin die Erkenntniss und die
Erklärung dieser Formenverhältnisse,
d. h. die Zurückführung
ihrer Erscheinung auf bestimmte Naturgesetze.

Wenn die Morphologie ihre eigentliche Aufgabe erkennt und eine
Wissenschaft sein will, so darf sie sich nicht begnügen mit der Kennt-
niss
der Formen, sondern sie muss ihre Erkenntniss und ihre Er-
klärung
erstreben, sie muss nach den Gesetzen suchen, nach denen
die Formen gebildet sind. Es muss diese hohe Aufgabe unserer Wis-
senschaft desshalb hier gleich beim Eintritt in dieselbe ausdrücklich
hervorgehoben werden, weil eine entgegengesetzte irrige Ansicht von
derselben weit verbreitet, ja selbst heutzutage noch die bei weitem
vorherrschende ist. Die grosse Mehrzahl der Naturforscher, welche
sich mit den Formen der Organismen beschäftigen, Zoologen sowohl,
als Botaniker, begnügt sich mit der blossen Kenntniss derselben;
sie sucht die unendlich mannichfaltigen Formen, die äusseren und in-
neren Gestaltungs-Verhältnisse der thierischen und pflanzlichen Körper
auf und ergötzt sich an ihrer Schönheit, bewundert ihre Mannichfaltig-
keit und erstaunt über ihre Zweckmässigkeit; sie beschreibt und unter-

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[[3]/0042] Erstes Capitel. Begriff und Aufgabe der Morphologie der Organismen. „Weil ich für mich und Andere einen freieren Spielraum in der Naturwissenschaft, als man uns bisher gegönnt, zu erringen wünsche, so darf man mir und den Gleichgesinnten keineswegs verargen, wenn wir dasjenige, was unseren rechtmässigen For- derungen entgegensteht, scharf bezeichnen und uns nicht mehr gefallen lassen, was man seit so vielen Jahren herkömmlich gegen uns verübte.“ Goethe. Die Morphologie oder Formenlehre der Organismen ist die gesammte Wissenschaft von den inneren und äusseren Formenverhältnissen der belebten Naturkörper, der Thiere und Pflanzen, im weitesten Sinne des Wortes. Die Aufgabe der organischen Morphologie ist mithin die Erkenntniss und die Erklärung dieser Formenverhältnisse, d. h. die Zurückführung ihrer Erscheinung auf bestimmte Naturgesetze. Wenn die Morphologie ihre eigentliche Aufgabe erkennt und eine Wissenschaft sein will, so darf sie sich nicht begnügen mit der Kennt- niss der Formen, sondern sie muss ihre Erkenntniss und ihre Er- klärung erstreben, sie muss nach den Gesetzen suchen, nach denen die Formen gebildet sind. Es muss diese hohe Aufgabe unserer Wis- senschaft desshalb hier gleich beim Eintritt in dieselbe ausdrücklich hervorgehoben werden, weil eine entgegengesetzte irrige Ansicht von derselben weit verbreitet, ja selbst heutzutage noch die bei weitem vorherrschende ist. Die grosse Mehrzahl der Naturforscher, welche sich mit den Formen der Organismen beschäftigen, Zoologen sowohl, als Botaniker, begnügt sich mit der blossen Kenntniss derselben; sie sucht die unendlich mannichfaltigen Formen, die äusseren und in- neren Gestaltungs-Verhältnisse der thierischen und pflanzlichen Körper auf und ergötzt sich an ihrer Schönheit, bewundert ihre Mannichfaltig- keit und erstaunt über ihre Zweckmässigkeit; sie beschreibt und unter- 1*

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. [3]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/42>, abgerufen am 11.12.2024.