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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Begriff und Aufgabe der Promorphologie.
meisten Zoologen und Botaniker hinsichtlich der allgemeinen Ver-
nachlässigung der Tectologie verdienen, gelten in noch höherem
Maasse hinsichtlich der Promorphologie. Nur sehr wenige Naturfor-
scher haben versucht, in der scheinbar gesetzlosen und ganz unbe-
rechenbaren Formenmannichfaltigkeit des Thier- und Pflanzenreichs
nach der Erkenntniss allgemeiner Gesetze zu streben, nach denen diese
Formen gebildet sind. Nur Einzelne haben den wenig berücksichtig-
ten Versuch gemacht, mathematisch bestimmbare Grundformen aufzu-
finden, welche die nothwendige Gesetzlichkeit auch in den complicirte-
sten Bildungen der organischen Naturkörper verrathen; aber auch
diese sind meistens bald vor den grossen Schwierigkeiten zurückge-
schreckt, welche einer mathematischen Erkenntniss der organischen
Formen entgegenstehen, und welche bei jedem tieferen Eindringen in
das Räthsel ihrer höchst complicirten Bildungen die erstere unmög-
lich erscheinen lassen.

Die anorganische Morphologie ist in dieser Beziehung der or-
ganischen unendlich voraus. Derjenige Wissenschaftszweig, welcher
dort der organischen Promorphologie entspricht, ist die Krystallo-
graphie, und es ist bekannt, welchen hohen Grad wissenschaftlicher
Vollendung, vorzüglich durch strenge Anwendung der rein mathemati-
schen Methode, diese "Promorphologie der Anorgane" erlangt hat. Von
der Krystallographie lernen wir, dass die Erkenntniss des Wesens
der Form nicht durch die blosse Beschreibung der realen Form des
Individuums, sondern durch die Construction seiner idealen Grundform
gewonnen wird. Der wissenschaftlichen Mineralogie genügt nicht die
genaueste äusserliche Beschreibung eines individuellen Krystalles,
wenn nicht das Verhältniss seiner verschiedenen Axen und deren Pole
zu einander erörtert und daraus die ideale stereometrische Grundform
des Krystalles, sein "System" erkannt ist. Bei den Organismen da-
gegen begnügt man sich fast allgemein mit der blossen Beschreibung
entweder der äusseren Oberflächen oder der inneren Structur, und
vernachlässigt die ideale stereometrische Grundform, welche auch hier
unter der verwickelten individuellen Form verborgen liegt, entweder
gänzlich, oder glaubt genug gethan zu haben, wenn man sie entweder
als "bilateral-symmetrische" oder als "radial-reguläre" bezeichnet.

Wir befinden uns also hier beim Eintritt in die Promorphologie
in der seltsamen Lage, die Wissenschaft, deren Grundzüge wir dar-
stellen wollen, nicht allein in den ersten embryonalen Anfängen
schlummernd, sondern sogar nicht einmal als selbstständige indivi-
duelle Disciplin anerkannt zu finden. Die Promorphologie der Or-
ganismen, welche nach unserer Ueberzeugung ein so wichtiger Be-
standtheil der organischen Morphologie ist, dass wir ihn sogar der
Tectologie als anderen ebenbürtigen Hauptzweig der Anatomie gegen-

Begriff und Aufgabe der Promorphologie.
meisten Zoologen und Botaniker hinsichtlich der allgemeinen Ver-
nachlässigung der Tectologie verdienen, gelten in noch höherem
Maasse hinsichtlich der Promorphologie. Nur sehr wenige Naturfor-
scher haben versucht, in der scheinbar gesetzlosen und ganz unbe-
rechenbaren Formenmannichfaltigkeit des Thier- und Pflanzenreichs
nach der Erkenntniss allgemeiner Gesetze zu streben, nach denen diese
Formen gebildet sind. Nur Einzelne haben den wenig berücksichtig-
ten Versuch gemacht, mathematisch bestimmbare Grundformen aufzu-
finden, welche die nothwendige Gesetzlichkeit auch in den complicirte-
sten Bildungen der organischen Naturkörper verrathen; aber auch
diese sind meistens bald vor den grossen Schwierigkeiten zurückge-
schreckt, welche einer mathematischen Erkenntniss der organischen
Formen entgegenstehen, und welche bei jedem tieferen Eindringen in
das Räthsel ihrer höchst complicirten Bildungen die erstere unmög-
lich erscheinen lassen.

Die anorganische Morphologie ist in dieser Beziehung der or-
ganischen unendlich voraus. Derjenige Wissenschaftszweig, welcher
dort der organischen Promorphologie entspricht, ist die Krystallo-
graphie, und es ist bekannt, welchen hohen Grad wissenschaftlicher
Vollendung, vorzüglich durch strenge Anwendung der rein mathemati-
schen Methode, diese „Promorphologie der Anorgane“ erlangt hat. Von
der Krystallographie lernen wir, dass die Erkenntniss des Wesens
der Form nicht durch die blosse Beschreibung der realen Form des
Individuums, sondern durch die Construction seiner idealen Grundform
gewonnen wird. Der wissenschaftlichen Mineralogie genügt nicht die
genaueste äusserliche Beschreibung eines individuellen Krystalles,
wenn nicht das Verhältniss seiner verschiedenen Axen und deren Pole
zu einander erörtert und daraus die ideale stereometrische Grundform
des Krystalles, sein „System“ erkannt ist. Bei den Organismen da-
gegen begnügt man sich fast allgemein mit der blossen Beschreibung
entweder der äusseren Oberflächen oder der inneren Structur, und
vernachlässigt die ideale stereometrische Grundform, welche auch hier
unter der verwickelten individuellen Form verborgen liegt, entweder
gänzlich, oder glaubt genug gethan zu haben, wenn man sie entweder
als „bilateral-symmetrische“ oder als „radial-reguläre“ bezeichnet.

Wir befinden uns also hier beim Eintritt in die Promorphologie
in der seltsamen Lage, die Wissenschaft, deren Grundzüge wir dar-
stellen wollen, nicht allein in den ersten embryonalen Anfängen
schlummernd, sondern sogar nicht einmal als selbstständige indivi-
duelle Disciplin anerkannt zu finden. Die Promorphologie der Or-
ganismen, welche nach unserer Ueberzeugung ein so wichtiger Be-
standtheil der organischen Morphologie ist, dass wir ihn sogar der
Tectologie als anderen ebenbürtigen Hauptzweig der Anatomie gegen-

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[378/0417] Begriff und Aufgabe der Promorphologie. meisten Zoologen und Botaniker hinsichtlich der allgemeinen Ver- nachlässigung der Tectologie verdienen, gelten in noch höherem Maasse hinsichtlich der Promorphologie. Nur sehr wenige Naturfor- scher haben versucht, in der scheinbar gesetzlosen und ganz unbe- rechenbaren Formenmannichfaltigkeit des Thier- und Pflanzenreichs nach der Erkenntniss allgemeiner Gesetze zu streben, nach denen diese Formen gebildet sind. Nur Einzelne haben den wenig berücksichtig- ten Versuch gemacht, mathematisch bestimmbare Grundformen aufzu- finden, welche die nothwendige Gesetzlichkeit auch in den complicirte- sten Bildungen der organischen Naturkörper verrathen; aber auch diese sind meistens bald vor den grossen Schwierigkeiten zurückge- schreckt, welche einer mathematischen Erkenntniss der organischen Formen entgegenstehen, und welche bei jedem tieferen Eindringen in das Räthsel ihrer höchst complicirten Bildungen die erstere unmög- lich erscheinen lassen. Die anorganische Morphologie ist in dieser Beziehung der or- ganischen unendlich voraus. Derjenige Wissenschaftszweig, welcher dort der organischen Promorphologie entspricht, ist die Krystallo- graphie, und es ist bekannt, welchen hohen Grad wissenschaftlicher Vollendung, vorzüglich durch strenge Anwendung der rein mathemati- schen Methode, diese „Promorphologie der Anorgane“ erlangt hat. Von der Krystallographie lernen wir, dass die Erkenntniss des Wesens der Form nicht durch die blosse Beschreibung der realen Form des Individuums, sondern durch die Construction seiner idealen Grundform gewonnen wird. Der wissenschaftlichen Mineralogie genügt nicht die genaueste äusserliche Beschreibung eines individuellen Krystalles, wenn nicht das Verhältniss seiner verschiedenen Axen und deren Pole zu einander erörtert und daraus die ideale stereometrische Grundform des Krystalles, sein „System“ erkannt ist. Bei den Organismen da- gegen begnügt man sich fast allgemein mit der blossen Beschreibung entweder der äusseren Oberflächen oder der inneren Structur, und vernachlässigt die ideale stereometrische Grundform, welche auch hier unter der verwickelten individuellen Form verborgen liegt, entweder gänzlich, oder glaubt genug gethan zu haben, wenn man sie entweder als „bilateral-symmetrische“ oder als „radial-reguläre“ bezeichnet. Wir befinden uns also hier beim Eintritt in die Promorphologie in der seltsamen Lage, die Wissenschaft, deren Grundzüge wir dar- stellen wollen, nicht allein in den ersten embryonalen Anfängen schlummernd, sondern sogar nicht einmal als selbstständige indivi- duelle Disciplin anerkannt zu finden. Die Promorphologie der Or- ganismen, welche nach unserer Ueberzeugung ein so wichtiger Be- standtheil der organischen Morphologie ist, dass wir ihn sogar der Tectologie als anderen ebenbürtigen Hauptzweig der Anatomie gegen-

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 378. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/417>, abgerufen am 23.11.2024.