Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

Bild:
<< vorherige Seite

Physiologische Individualität der Organismen.
nach den neuesten Versuchen von Recklinghausen scheint es selbst,
dass die Blutzellen höherer Thiere unter gewissen günstigen Bedin-
gungen ausserhalb des Organismus sich nicht allein zu erhalten, son-
dern auch fortzupflanzen und bestimmte Veränderungen einzugehen
fähig sind. Ebenso vermögen viele Flimmerzellen, besonders von
niederen Thieren, noch lange Zeit, nachdem sie sich von dem zuge-
hörigen Organismus abgelöst haben, ausserhalb desselben zu erhalten
und ihre beständigen Bewegungen unvermindert fortzusetzen. Auch
einzelne Pflanzenzellen, aus dem Zusammenhange des Parenchyms
ausgelöst, vermögen unter Umständen sich lange Zeit lebensfähig zu
conserviren, und nicht allein sich selbst zu erhalten, sondern auch durch
Theilung sich zu vervielfältigen, ohne dass sie jedoch die Fähigkeit
besässen, sich vollständig zu einem actuellen Bion zu entwickeln.
Unter den isolirten Zellen der Phanerogamen scheinen besonders viele
Pollenkörner einen hohen Grad von physiologischer Individualität zu
besitzen. In noch auffallenderem Maasse findet sich dieselbe aber bei
den beweglichen Zoospermien der Cryptogamen und der Thiere vor,
welche sogar erst nach ihrer Ablösung vom actuellen Bion ihre eigent-
liche Function zu erfüllen beginnen.

II. Die Organe als Bionten.
Physiologische Individuen zweiter Ordnung.

Während die Plastiden als morphologische Individuen erster Ord-
nung sehr häufig zugleich die physiologische Individualität repräsen-
tiren, so ist dies bei den Organen, als Form-Individuen zweiter Ord-
nung, ungleich seltener der Fall. Doch sind immerhin die Fälle,
welche als solche sicher betrachtet werden können, viel häufiger, als
es wohl beim ersten Gedanken an ihre Möglichkeit scheinen könnte.
Es ist in dieser Beziehung vor Allem sehr wichtig, sich an die rein
morphologische Bedeutung zu erinnern, in welcher wir oben den Be-
griff des Organes festgestellt haben (p. 291). Wir verstanden darunter
allgemein "jede constante einheitliche Raumgrösse von bestimmter
Form, welche aus einer bestimmten Summe von mehreren Plastiden
in constanter Verbindung zusammengesetzt ist, und welche nicht die
positiven Charactere der Form-Individuen dritter bis sechster Ordnung
erkennen lässt." Von der einfachen Plastide unterscheidet sich das
Organ durch seine Zusammensetzung aus mehreren Plastiden, von den
Antimeren und den anderen höheren Individualitäten durch den Mangel
derjenigen characteristischen Eigenschaften, welche diese bestimmt
kennzeichnen. Bei der unendlichen Mannichfaltigkeit in äusserer Form
und innerer Zusammensetzung ist es nicht möglich, diese allerdings

Physiologische Individualität der Organismen.
nach den neuesten Versuchen von Recklinghausen scheint es selbst,
dass die Blutzellen höherer Thiere unter gewissen günstigen Bedin-
gungen ausserhalb des Organismus sich nicht allein zu erhalten, son-
dern auch fortzupflanzen und bestimmte Veränderungen einzugehen
fähig sind. Ebenso vermögen viele Flimmerzellen, besonders von
niederen Thieren, noch lange Zeit, nachdem sie sich von dem zuge-
hörigen Organismus abgelöst haben, ausserhalb desselben zu erhalten
und ihre beständigen Bewegungen unvermindert fortzusetzen. Auch
einzelne Pflanzenzellen, aus dem Zusammenhange des Parenchyms
ausgelöst, vermögen unter Umständen sich lange Zeit lebensfähig zu
conserviren, und nicht allein sich selbst zu erhalten, sondern auch durch
Theilung sich zu vervielfältigen, ohne dass sie jedoch die Fähigkeit
besässen, sich vollständig zu einem actuellen Bion zu entwickeln.
Unter den isolirten Zellen der Phanerogamen scheinen besonders viele
Pollenkörner einen hohen Grad von physiologischer Individualität zu
besitzen. In noch auffallenderem Maasse findet sich dieselbe aber bei
den beweglichen Zoospermien der Cryptogamen und der Thiere vor,
welche sogar erst nach ihrer Ablösung vom actuellen Bion ihre eigent-
liche Function zu erfüllen beginnen.

II. Die Organe als Bionten.
Physiologische Individuen zweiter Ordnung.

Während die Plastiden als morphologische Individuen erster Ord-
nung sehr häufig zugleich die physiologische Individualität repräsen-
tiren, so ist dies bei den Organen, als Form-Individuen zweiter Ord-
nung, ungleich seltener der Fall. Doch sind immerhin die Fälle,
welche als solche sicher betrachtet werden können, viel häufiger, als
es wohl beim ersten Gedanken an ihre Möglichkeit scheinen könnte.
Es ist in dieser Beziehung vor Allem sehr wichtig, sich an die rein
morphologische Bedeutung zu erinnern, in welcher wir oben den Be-
griff des Organes festgestellt haben (p. 291). Wir verstanden darunter
allgemein „jede constante einheitliche Raumgrösse von bestimmter
Form, welche aus einer bestimmten Summe von mehreren Plastiden
in constanter Verbindung zusammengesetzt ist, und welche nicht die
positiven Charactere der Form-Individuen dritter bis sechster Ordnung
erkennen lässt.“ Von der einfachen Plastide unterscheidet sich das
Organ durch seine Zusammensetzung aus mehreren Plastiden, von den
Antimeren und den anderen höheren Individualitäten durch den Mangel
derjenigen characteristischen Eigenschaften, welche diese bestimmt
kennzeichnen. Bei der unendlichen Mannichfaltigkeit in äusserer Form
und innerer Zusammensetzung ist es nicht möglich, diese allerdings

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0379" n="340"/><fw place="top" type="header">Physiologische Individualität der Organismen.</fw><lb/>
nach den neuesten Versuchen von <hi rendition="#g">Recklinghausen</hi> scheint es selbst,<lb/>
dass die Blutzellen höherer Thiere unter gewissen günstigen Bedin-<lb/>
gungen ausserhalb des Organismus sich nicht allein zu erhalten, son-<lb/>
dern auch fortzupflanzen und bestimmte Veränderungen einzugehen<lb/>
fähig sind. Ebenso vermögen viele Flimmerzellen, besonders von<lb/>
niederen Thieren, noch lange Zeit, nachdem sie sich von dem zuge-<lb/>
hörigen Organismus abgelöst haben, ausserhalb desselben zu erhalten<lb/>
und ihre beständigen Bewegungen unvermindert fortzusetzen. Auch<lb/>
einzelne Pflanzenzellen, aus dem Zusammenhange des Parenchyms<lb/>
ausgelöst, vermögen unter Umständen sich lange Zeit lebensfähig zu<lb/>
conserviren, und nicht allein sich selbst zu erhalten, sondern auch durch<lb/>
Theilung sich zu vervielfältigen, ohne dass sie jedoch die Fähigkeit<lb/>
besässen, sich vollständig zu einem actuellen Bion zu entwickeln.<lb/>
Unter den isolirten Zellen der Phanerogamen scheinen besonders viele<lb/>
Pollenkörner einen hohen Grad von physiologischer Individualität zu<lb/>
besitzen. In noch auffallenderem Maasse findet sich dieselbe aber bei<lb/>
den beweglichen Zoospermien der Cryptogamen und der Thiere vor,<lb/>
welche sogar erst nach ihrer Ablösung vom actuellen Bion ihre eigent-<lb/>
liche Function zu erfüllen beginnen.</p>
            </div>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">II. Die Organe als Bionten.</hi><lb/> <hi rendition="#g">Physiologische Individuen zweiter Ordnung.</hi> </head><lb/>
            <p>Während die Plastiden als morphologische Individuen erster Ord-<lb/>
nung sehr häufig zugleich die physiologische Individualität repräsen-<lb/>
tiren, so ist dies bei den Organen, als Form-Individuen zweiter Ord-<lb/>
nung, ungleich seltener der Fall. Doch sind immerhin die Fälle,<lb/>
welche als solche sicher betrachtet werden können, viel häufiger, als<lb/>
es wohl beim ersten Gedanken an ihre Möglichkeit scheinen könnte.<lb/>
Es ist in dieser Beziehung vor Allem sehr wichtig, sich an die rein<lb/>
morphologische Bedeutung zu erinnern, in welcher wir oben den Be-<lb/>
griff des Organes festgestellt haben (p. 291). Wir verstanden darunter<lb/>
allgemein &#x201E;jede constante einheitliche Raumgrösse von bestimmter<lb/>
Form, welche aus einer bestimmten Summe von mehreren Plastiden<lb/>
in constanter Verbindung zusammengesetzt ist, und welche nicht die<lb/>
positiven Charactere der Form-Individuen dritter bis sechster Ordnung<lb/>
erkennen lässt.&#x201C; Von der einfachen Plastide unterscheidet sich das<lb/>
Organ durch seine Zusammensetzung aus mehreren Plastiden, von den<lb/>
Antimeren und den anderen höheren Individualitäten durch den Mangel<lb/>
derjenigen characteristischen Eigenschaften, welche diese bestimmt<lb/>
kennzeichnen. Bei der unendlichen Mannichfaltigkeit in äusserer Form<lb/>
und innerer Zusammensetzung ist es nicht möglich, diese allerdings<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[340/0379] Physiologische Individualität der Organismen. nach den neuesten Versuchen von Recklinghausen scheint es selbst, dass die Blutzellen höherer Thiere unter gewissen günstigen Bedin- gungen ausserhalb des Organismus sich nicht allein zu erhalten, son- dern auch fortzupflanzen und bestimmte Veränderungen einzugehen fähig sind. Ebenso vermögen viele Flimmerzellen, besonders von niederen Thieren, noch lange Zeit, nachdem sie sich von dem zuge- hörigen Organismus abgelöst haben, ausserhalb desselben zu erhalten und ihre beständigen Bewegungen unvermindert fortzusetzen. Auch einzelne Pflanzenzellen, aus dem Zusammenhange des Parenchyms ausgelöst, vermögen unter Umständen sich lange Zeit lebensfähig zu conserviren, und nicht allein sich selbst zu erhalten, sondern auch durch Theilung sich zu vervielfältigen, ohne dass sie jedoch die Fähigkeit besässen, sich vollständig zu einem actuellen Bion zu entwickeln. Unter den isolirten Zellen der Phanerogamen scheinen besonders viele Pollenkörner einen hohen Grad von physiologischer Individualität zu besitzen. In noch auffallenderem Maasse findet sich dieselbe aber bei den beweglichen Zoospermien der Cryptogamen und der Thiere vor, welche sogar erst nach ihrer Ablösung vom actuellen Bion ihre eigent- liche Function zu erfüllen beginnen. II. Die Organe als Bionten. Physiologische Individuen zweiter Ordnung. Während die Plastiden als morphologische Individuen erster Ord- nung sehr häufig zugleich die physiologische Individualität repräsen- tiren, so ist dies bei den Organen, als Form-Individuen zweiter Ord- nung, ungleich seltener der Fall. Doch sind immerhin die Fälle, welche als solche sicher betrachtet werden können, viel häufiger, als es wohl beim ersten Gedanken an ihre Möglichkeit scheinen könnte. Es ist in dieser Beziehung vor Allem sehr wichtig, sich an die rein morphologische Bedeutung zu erinnern, in welcher wir oben den Be- griff des Organes festgestellt haben (p. 291). Wir verstanden darunter allgemein „jede constante einheitliche Raumgrösse von bestimmter Form, welche aus einer bestimmten Summe von mehreren Plastiden in constanter Verbindung zusammengesetzt ist, und welche nicht die positiven Charactere der Form-Individuen dritter bis sechster Ordnung erkennen lässt.“ Von der einfachen Plastide unterscheidet sich das Organ durch seine Zusammensetzung aus mehreren Plastiden, von den Antimeren und den anderen höheren Individualitäten durch den Mangel derjenigen characteristischen Eigenschaften, welche diese bestimmt kennzeichnen. Bei der unendlichen Mannichfaltigkeit in äusserer Form und innerer Zusammensetzung ist es nicht möglich, diese allerdings

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/379
Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 340. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/379>, abgerufen am 23.11.2024.