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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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I. Die Plastiden als Bionten.
"einzelligen" Pflanzen und Protisten, welche keinen Kern besitzen,
also in Wahrheit noch keine Zelle, sondern bloss eine Cytode dar-
stellen, einen Plasmaklumpen, welcher von einer Schale oder Membran
total oder partiell umschlossen ist. Zu den merkwürdigsten der hier-
her gehörigen niederen Pflanzen sind diejenigen colossalen Siphoneen
zu rechnen (Caulerpa, Bryopsis etc.), welche vollständig die differen-
zirten Formen höherer Pflanzen mit Wurzeln, Stengel, Aesten und
Blättern nachahmen, aber dennoch trotz ihrer beträchtlichen Grösse
nur aus einer einzigen, sehr grossen Lepocytode bestehen, einem
kernlosen Plasmaschlauche, welcher von Cellulose-Haut umgeben ist
und verschiedene "innere Plasmaproducte" einschliesst. Nicht minder
merkwürdig sind die unendlich mannichfaltigen und zum Theil höchst
complicirt gebauten Formen der Polythalamien und vieler anderen
Rhizopoden, deren ganzer weicher Körper nur aus einem einzigen
homogenen Plasmaklumpen ohne Kern besteht, und bei dem die Mem-
bran durch eine gewöhnlich kalkige Schale von äusserst verwickelter
Structur ersetzt wird. Man pflegt zwar meistens diese Acyttarien, und
namentlich die Polythalamien, nicht als monoplastide Organismen auf-
zufassen, sondern als "vielzellige", und sagt, dass ihr nicht differen-
zirter weicher Protoplasmakörper "aus verschmolzenen Zellen" zu-
sammengesetzt sei. Richtiger wäre aber wohl zu sagen, dass derselbe
"noch nicht in Zellen differenzirt" sei, da bisher noch zu keiner Zeit
des Lebens echte Zellkerne in dem Protoplasma-Leibe der meisten
Acyttarien nachgewiesen sind. Einzelne Ausnahmen (Gromia) können
sich immerhin trotzdem zu wirklicher Zellen-Differenzirung erheben,
indem Kerne in dem Plasma auftreten. Diese sind dann schon Form-
Individuen zweiter Ordnung.

Unter den Gymnocyten oder Urzellen, den einfachen nackten
Zellen, welche als actuelle Bionten auftreten, sind vor Allen die echten
Amoeben höchst bemerkenswerth, die merkwürdigen, in allen Ge-
wässern so verbreiteten Formen, welche uns als selbstständige Species
dauernd einen Form-Zustand repräsentiren, den wir bei vielen höheren
Organismen nur als vorübergehenden Embryonal-Zustand (virtuelles
Bion) oder als integrirenden Bestandtheil (partielles Bion) von Ge-
weben (Blut, Lymphe) kennen. Neuerdings ist man zwar sehr geneigt,
alle Amoeben als solche virtuelle oder partielle Bionten zu betrachten,
und es ist in der That sehr schwierig, durch irgend welche Mittel den
bestimmten Beweis zu liefern, dass nicht alle Amoeben blosse frei
gewordene Gewebsbestandtheile oder Entwickelungszustände anderer
Organismen sind; aber eben so schwer oder vielmehr unmöglich ist
der Beweis des Gegentheils, und daher scheint uns immer noch die
Annahme sicherer und hinlänglich gerechtfertigt, dass es wirklich auch
Amoeben als selbstständige "Species", d. h. als actuelle Bionten giebt.

Haeckel, Generelle Morphologie. 22

I. Die Plastiden als Bionten.
„einzelligen“ Pflanzen und Protisten, welche keinen Kern besitzen,
also in Wahrheit noch keine Zelle, sondern bloss eine Cytode dar-
stellen, einen Plasmaklumpen, welcher von einer Schale oder Membran
total oder partiell umschlossen ist. Zu den merkwürdigsten der hier-
her gehörigen niederen Pflanzen sind diejenigen colossalen Siphoneen
zu rechnen (Caulerpa, Bryopsis etc.), welche vollständig die differen-
zirten Formen höherer Pflanzen mit Wurzeln, Stengel, Aesten und
Blättern nachahmen, aber dennoch trotz ihrer beträchtlichen Grösse
nur aus einer einzigen, sehr grossen Lepocytode bestehen, einem
kernlosen Plasmaschlauche, welcher von Cellulose-Haut umgeben ist
und verschiedene „innere Plasmaproducte“ einschliesst. Nicht minder
merkwürdig sind die unendlich mannichfaltigen und zum Theil höchst
complicirt gebauten Formen der Polythalamien und vieler anderen
Rhizopoden, deren ganzer weicher Körper nur aus einem einzigen
homogenen Plasmaklumpen ohne Kern besteht, und bei dem die Mem-
bran durch eine gewöhnlich kalkige Schale von äusserst verwickelter
Structur ersetzt wird. Man pflegt zwar meistens diese Acyttarien, und
namentlich die Polythalamien, nicht als monoplastide Organismen auf-
zufassen, sondern als „vielzellige“, und sagt, dass ihr nicht differen-
zirter weicher Protoplasmakörper „aus verschmolzenen Zellen“ zu-
sammengesetzt sei. Richtiger wäre aber wohl zu sagen, dass derselbe
„noch nicht in Zellen differenzirt“ sei, da bisher noch zu keiner Zeit
des Lebens echte Zellkerne in dem Protoplasma-Leibe der meisten
Acyttarien nachgewiesen sind. Einzelne Ausnahmen (Gromia) können
sich immerhin trotzdem zu wirklicher Zellen-Differenzirung erheben,
indem Kerne in dem Plasma auftreten. Diese sind dann schon Form-
Individuen zweiter Ordnung.

Unter den Gymnocyten oder Urzellen, den einfachen nackten
Zellen, welche als actuelle Bionten auftreten, sind vor Allen die echten
Amoeben höchst bemerkenswerth, die merkwürdigen, in allen Ge-
wässern so verbreiteten Formen, welche uns als selbstständige Species
dauernd einen Form-Zustand repräsentiren, den wir bei vielen höheren
Organismen nur als vorübergehenden Embryonal-Zustand (virtuelles
Bion) oder als integrirenden Bestandtheil (partielles Bion) von Ge-
weben (Blut, Lymphe) kennen. Neuerdings ist man zwar sehr geneigt,
alle Amoeben als solche virtuelle oder partielle Bionten zu betrachten,
und es ist in der That sehr schwierig, durch irgend welche Mittel den
bestimmten Beweis zu liefern, dass nicht alle Amoeben blosse frei
gewordene Gewebsbestandtheile oder Entwickelungszustände anderer
Organismen sind; aber eben so schwer oder vielmehr unmöglich ist
der Beweis des Gegentheils, und daher scheint uns immer noch die
Annahme sicherer und hinlänglich gerechtfertigt, dass es wirklich auch
Amoeben als selbstständige „Species“, d. h. als actuelle Bionten giebt.

Haeckel, Generelle Morphologie. 22
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[337/0376] I. Die Plastiden als Bionten. „einzelligen“ Pflanzen und Protisten, welche keinen Kern besitzen, also in Wahrheit noch keine Zelle, sondern bloss eine Cytode dar- stellen, einen Plasmaklumpen, welcher von einer Schale oder Membran total oder partiell umschlossen ist. Zu den merkwürdigsten der hier- her gehörigen niederen Pflanzen sind diejenigen colossalen Siphoneen zu rechnen (Caulerpa, Bryopsis etc.), welche vollständig die differen- zirten Formen höherer Pflanzen mit Wurzeln, Stengel, Aesten und Blättern nachahmen, aber dennoch trotz ihrer beträchtlichen Grösse nur aus einer einzigen, sehr grossen Lepocytode bestehen, einem kernlosen Plasmaschlauche, welcher von Cellulose-Haut umgeben ist und verschiedene „innere Plasmaproducte“ einschliesst. Nicht minder merkwürdig sind die unendlich mannichfaltigen und zum Theil höchst complicirt gebauten Formen der Polythalamien und vieler anderen Rhizopoden, deren ganzer weicher Körper nur aus einem einzigen homogenen Plasmaklumpen ohne Kern besteht, und bei dem die Mem- bran durch eine gewöhnlich kalkige Schale von äusserst verwickelter Structur ersetzt wird. Man pflegt zwar meistens diese Acyttarien, und namentlich die Polythalamien, nicht als monoplastide Organismen auf- zufassen, sondern als „vielzellige“, und sagt, dass ihr nicht differen- zirter weicher Protoplasmakörper „aus verschmolzenen Zellen“ zu- sammengesetzt sei. Richtiger wäre aber wohl zu sagen, dass derselbe „noch nicht in Zellen differenzirt“ sei, da bisher noch zu keiner Zeit des Lebens echte Zellkerne in dem Protoplasma-Leibe der meisten Acyttarien nachgewiesen sind. Einzelne Ausnahmen (Gromia) können sich immerhin trotzdem zu wirklicher Zellen-Differenzirung erheben, indem Kerne in dem Plasma auftreten. Diese sind dann schon Form- Individuen zweiter Ordnung. Unter den Gymnocyten oder Urzellen, den einfachen nackten Zellen, welche als actuelle Bionten auftreten, sind vor Allen die echten Amoeben höchst bemerkenswerth, die merkwürdigen, in allen Ge- wässern so verbreiteten Formen, welche uns als selbstständige Species dauernd einen Form-Zustand repräsentiren, den wir bei vielen höheren Organismen nur als vorübergehenden Embryonal-Zustand (virtuelles Bion) oder als integrirenden Bestandtheil (partielles Bion) von Ge- weben (Blut, Lymphe) kennen. Neuerdings ist man zwar sehr geneigt, alle Amoeben als solche virtuelle oder partielle Bionten zu betrachten, und es ist in der That sehr schwierig, durch irgend welche Mittel den bestimmten Beweis zu liefern, dass nicht alle Amoeben blosse frei gewordene Gewebsbestandtheile oder Entwickelungszustände anderer Organismen sind; aber eben so schwer oder vielmehr unmöglich ist der Beweis des Gegentheils, und daher scheint uns immer noch die Annahme sicherer und hinlänglich gerechtfertigt, dass es wirklich auch Amoeben als selbstständige „Species“, d. h. als actuelle Bionten giebt. Haeckel, Generelle Morphologie. 22

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/376>, abgerufen am 23.11.2024.