Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.V. Verschiedene Auffassungen des thierischen Individuums. schlechtlichen wechseln, kommen wir durch consequente Anwendungdieses Kriteriums alsbald in grosse Verlegenheiten. In vielen Fällen können wir die geschlechtlich erzeugten Individuen absolut nicht von den ungeschlechtlich erzeugten unterscheiden, und jene führen eine eben so selbstständige Existenz, als diese. In manchen Fällen wissen wir positiv, dass zahllose vollkommen selbstständige Individuen oder Individuenstöcke, z. B. alle Trauerweiden Europas, alle Blutbuchen, alle Rosskastanien mit gefüllter Blüthe, durch fortgesetzte ungeschlecht- liche Zeugung, Fortpflanzung durch Ableger, Knospen etc. aus einem einzigen Individuum hervorgegangen sind. Sollen wir desshalb alle diese einzelnen, über einen ganzen Erdtheil zerstreuten Bäume für Theilstücke eines einzigen Individuums halten? Sollen wir alle die Millionen von Blattläusen, die von einer einzigen geschlechtlich er- zeugten Blattlaus durch fortgesetzte innere Knospung entstanden sind, und die alle dieser letzteren, bis auf den Mangel gewisser Geschlechts- theile, vollkommen gleichen, für abgelöste Stücke derselben erklären? Es widerspricht dies zu sehr der natürlichen Forderung der räumlichen Einheit, welche wir nothwendig von dem Individuum, mögen wir dasselbe nun mehr vom physiologischen oder mehr vom morpholo- gischen Standpunkt aus betrachten, verlangen müssen. Auch kommen wir dadurch in grosse Verlegenheit bezüglich derjenigen niederen Organismen, bei denen eine geschlechtliche Fortpflanzung überhaupt noch nicht nachgewiesen ist, wie z. B. bei zahlreichen Organismen des Protistenreichs, bei den Moneren, Protoplasten, Rhizopoden, Noctiluken, Diatomeen etc. Da diese niedrig stehenden Organismen sich, wenig- stens zum grossen Theil, ausschliesslich auf ungeschlechtlichem Wege fortpflanzen, so würde das genealogische Individuum, wie es Gallesio für die Pflanze, Huxley für das Thier bestimmt hat, sich hier über- haupt nicht erkennen lassen. Es bliebe nichts übrig, als die ganze Art, welche sich zahllose Generationen hindurch immer in derselben Weise auf ungeschlechtlichem Wege fortpflanzt, oder vielmehr, da die Art veränderlich ist, den Stamm, welcher sich aus allen verwandten Arten zusammensetzt, als Individuum zu bezeichnen. Allerdings kön- nen wir auch diese Individualität als solche gelten lassen; ein solcher Entwickelungs-Cyclus ist auch eine organische Einheit; allein er ent- spricht nicht dem Begriffe des individuellen Organismus, wie ihn die Tectologie als Theil der Anatomie zu bestimmen hat. Vielmehr fällt diese genealogische Individualität, als eine Entwickelungseinheit, der Entwickelungsgeschichte oder Ontogenie anheim und wir werden sie daher im fünften und sechsten Buche zu erläutern haben. Blicken wir nochmals vergleichend zurück auf die angeführten V. Verschiedene Auffassungen des thierischen Individuums. schlechtlichen wechseln, kommen wir durch consequente Anwendungdieses Kriteriums alsbald in grosse Verlegenheiten. In vielen Fällen können wir die geschlechtlich erzeugten Individuen absolut nicht von den ungeschlechtlich erzeugten unterscheiden, und jene führen eine eben so selbstständige Existenz, als diese. In manchen Fällen wissen wir positiv, dass zahllose vollkommen selbstständige Individuen oder Individuenstöcke, z. B. alle Trauerweiden Europas, alle Blutbuchen, alle Rosskastanien mit gefüllter Blüthe, durch fortgesetzte ungeschlecht- liche Zeugung, Fortpflanzung durch Ableger, Knospen etc. aus einem einzigen Individuum hervorgegangen sind. Sollen wir desshalb alle diese einzelnen, über einen ganzen Erdtheil zerstreuten Bäume für Theilstücke eines einzigen Individuums halten? Sollen wir alle die Millionen von Blattläusen, die von einer einzigen geschlechtlich er- zeugten Blattlaus durch fortgesetzte innere Knospung entstanden sind, und die alle dieser letzteren, bis auf den Mangel gewisser Geschlechts- theile, vollkommen gleichen, für abgelöste Stücke derselben erklären? Es widerspricht dies zu sehr der natürlichen Forderung der räumlichen Einheit, welche wir nothwendig von dem Individuum, mögen wir dasselbe nun mehr vom physiologischen oder mehr vom morpholo- gischen Standpunkt aus betrachten, verlangen müssen. Auch kommen wir dadurch in grosse Verlegenheit bezüglich derjenigen niederen Organismen, bei denen eine geschlechtliche Fortpflanzung überhaupt noch nicht nachgewiesen ist, wie z. B. bei zahlreichen Organismen des Protistenreichs, bei den Moneren, Protoplasten, Rhizopoden, Noctiluken, Diatomeen etc. Da diese niedrig stehenden Organismen sich, wenig- stens zum grossen Theil, ausschliesslich auf ungeschlechtlichem Wege fortpflanzen, so würde das genealogische Individuum, wie es Gallesio für die Pflanze, Huxley für das Thier bestimmt hat, sich hier über- haupt nicht erkennen lassen. Es bliebe nichts übrig, als die ganze Art, welche sich zahllose Generationen hindurch immer in derselben Weise auf ungeschlechtlichem Wege fortpflanzt, oder vielmehr, da die Art veränderlich ist, den Stamm, welcher sich aus allen verwandten Arten zusammensetzt, als Individuum zu bezeichnen. Allerdings kön- nen wir auch diese Individualität als solche gelten lassen; ein solcher Entwickelungs-Cyclus ist auch eine organische Einheit; allein er ent- spricht nicht dem Begriffe des individuellen Organismus, wie ihn die Tectologie als Theil der Anatomie zu bestimmen hat. 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V. Verschiedene Auffassungen des thierischen Individuums.
schlechtlichen wechseln, kommen wir durch consequente Anwendung
dieses Kriteriums alsbald in grosse Verlegenheiten. In vielen Fällen
können wir die geschlechtlich erzeugten Individuen absolut nicht von
den ungeschlechtlich erzeugten unterscheiden, und jene führen eine
eben so selbstständige Existenz, als diese. In manchen Fällen wissen
wir positiv, dass zahllose vollkommen selbstständige Individuen oder
Individuenstöcke, z. B. alle Trauerweiden Europas, alle Blutbuchen,
alle Rosskastanien mit gefüllter Blüthe, durch fortgesetzte ungeschlecht-
liche Zeugung, Fortpflanzung durch Ableger, Knospen etc. aus einem
einzigen Individuum hervorgegangen sind. Sollen wir desshalb alle
diese einzelnen, über einen ganzen Erdtheil zerstreuten Bäume für
Theilstücke eines einzigen Individuums halten? Sollen wir alle die
Millionen von Blattläusen, die von einer einzigen geschlechtlich er-
zeugten Blattlaus durch fortgesetzte innere Knospung entstanden sind,
und die alle dieser letzteren, bis auf den Mangel gewisser Geschlechts-
theile, vollkommen gleichen, für abgelöste Stücke derselben erklären?
Es widerspricht dies zu sehr der natürlichen Forderung der räumlichen
Einheit, welche wir nothwendig von dem Individuum, mögen wir
dasselbe nun mehr vom physiologischen oder mehr vom morpholo-
gischen Standpunkt aus betrachten, verlangen müssen. Auch kommen
wir dadurch in grosse Verlegenheit bezüglich derjenigen niederen
Organismen, bei denen eine geschlechtliche Fortpflanzung überhaupt
noch nicht nachgewiesen ist, wie z. B. bei zahlreichen Organismen des
Protistenreichs, bei den Moneren, Protoplasten, Rhizopoden, Noctiluken,
Diatomeen etc. Da diese niedrig stehenden Organismen sich, wenig-
stens zum grossen Theil, ausschliesslich auf ungeschlechtlichem Wege
fortpflanzen, so würde das genealogische Individuum, wie es Gallesio
für die Pflanze, Huxley für das Thier bestimmt hat, sich hier über-
haupt nicht erkennen lassen. Es bliebe nichts übrig, als die ganze
Art, welche sich zahllose Generationen hindurch immer in derselben
Weise auf ungeschlechtlichem Wege fortpflanzt, oder vielmehr, da die
Art veränderlich ist, den Stamm, welcher sich aus allen verwandten
Arten zusammensetzt, als Individuum zu bezeichnen. Allerdings kön-
nen wir auch diese Individualität als solche gelten lassen; ein solcher
Entwickelungs-Cyclus ist auch eine organische Einheit; allein er ent-
spricht nicht dem Begriffe des individuellen Organismus, wie ihn die
Tectologie als Theil der Anatomie zu bestimmen hat. Vielmehr fällt
diese genealogische Individualität, als eine Entwickelungseinheit, der
Entwickelungsgeschichte oder Ontogenie anheim und wir werden sie
daher im fünften und sechsten Buche zu erläutern haben.
Blicken wir nochmals vergleichend zurück auf die angeführten
verschiedenen Versuche, welche zur Bestimmung der thierischen Indi-
vidualität gemacht worden sind, so finden wir deren Begriff weit
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