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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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V. Verschiedene Auffassungen des thierischen Individuums.
stöcken, auffassen soll. Das ist der Fall insbesondere bei den Cesto-
den unter den Würmern, und bei den Siphonophoren unter den Coe-
lenteraten, Thiercolonieen, welche man früherhin allgemein für ein-
zelne Individuen hielt, während man die individuellen Bestandtheile der
Colonie als Organe ansah. Für die Siphonophoren wurde insbeson-
dere durch Leuckart in seiner Abhandlung "über den Polymorphis-
mus der Individuen oder die Erscheinung der Arbeitstheilung in der
Natur" (1851) der Beweis geführt, dass ihre schwimmenden, von einem
einheitlichen Willen beseelten und mit den verschiedenartigsten An-
hängen besetzten Körper keine Einzelthiere, sondern Stöcke seien;
Colonieen von polymorphen Individuen, welche durch hoch entwickelte
Arbeitstheilung in ihrer äusseren Form-Erscheinung weit aus einander
gegangen seien. Während sich einerseits durch Vergleichung mit den
einfachen polypoiden (hydroiden) und medusoiden Grundformen der
Hydromedusen-Klasse leicht der Nachweis führen lässt, dass alle die
verschiedenartigen Anhänge des Siphonophoren-Stockes, die Schwimm-
glocken, Saugröhren, Tastkolben, Fangfäden u. s. w. den ersteren
homolog, ihre morphologischen Aequivalente sind, wird doch anderer-
seits die Selbstständigkeit dieser Individuen durch ihre weit gehende
Differenzirung so sehr vernichtet, dass die physiologische Einheit des
Organismus nur durch den ganzen Stock repräsentirt wird und dieser
als das höhere Individuum erscheint.

In dieser vortrefflichen Abhandlung Leuckarts war bereits der
doppelte Hinweis darauf gegeben, erstens, dass man auch beim Thiere
wie bei der Pflanze, wenn man die Individualität bestimmen wolle,
Individuen verschiedener Ordnung: Stöcke, Individuen im
engeren Sinne, Organe u. s. w. unterscheiden müsse, und zweitens
dass man wohl zwischen morphologischer und physiologischer
Individualität
zu unterscheiden habe. Leider wurden diese leiten-
den Gesichtspunkte gänzlich vernachlässigt in derjenigen umfangreichen
Abhandlung, welche die Frage von der thierischen Individualität wohl
am ausführlichsten, aber auch am verkehrtesten und verworrensten be-
handelt hat, in Reicherts Schrift "über die monogene Fortpflanzung"
(1852). Es würde uns zu viel Zeit und Raum kosten, aus dieser
breiten, seltsamen Schrift hier auch nur einen oberflächlichen Auszug zu
geben, da allein schon die Uebertragung der eigenthümlichen Ansich-
ten des Verfassers aus ihrem dunkeln mysteriös-philosophischen Ge-
wande in klares, verständliches Deutsch und eine fassliche Explication
der darin versteckten Gedanken einen allzugrossen Raum fortnehmen
würde. Auch sind die allgemeinen Anschauungen, aus welchen
Reichert seine Deductionen ableitet, so oberflächlich und beschränkt,
so unklar und verworren, dass es nicht der Mühe lohnt, sie ernstlich

Haeckel, Generelle Morphologie. 17

V. Verschiedene Auffassungen des thierischen Individuums.
stöcken, auffassen soll. Das ist der Fall insbesondere bei den Cesto-
den unter den Würmern, und bei den Siphonophoren unter den Coe-
lenteraten, Thiercolonieen, welche man früherhin allgemein für ein-
zelne Individuen hielt, während man die individuellen Bestandtheile der
Colonie als Organe ansah. Für die Siphonophoren wurde insbeson-
dere durch Leuckart in seiner Abhandlung „über den Polymorphis-
mus der Individuen oder die Erscheinung der Arbeitstheilung in der
Natur“ (1851) der Beweis geführt, dass ihre schwimmenden, von einem
einheitlichen Willen beseelten und mit den verschiedenartigsten An-
hängen besetzten Körper keine Einzelthiere, sondern Stöcke seien;
Colonieen von polymorphen Individuen, welche durch hoch entwickelte
Arbeitstheilung in ihrer äusseren Form-Erscheinung weit aus einander
gegangen seien. Während sich einerseits durch Vergleichung mit den
einfachen polypoiden (hydroiden) und medusoiden Grundformen der
Hydromedusen-Klasse leicht der Nachweis führen lässt, dass alle die
verschiedenartigen Anhänge des Siphonophoren-Stockes, die Schwimm-
glocken, Saugröhren, Tastkolben, Fangfäden u. s. w. den ersteren
homolog, ihre morphologischen Aequivalente sind, wird doch anderer-
seits die Selbstständigkeit dieser Individuen durch ihre weit gehende
Differenzirung so sehr vernichtet, dass die physiologische Einheit des
Organismus nur durch den ganzen Stock repräsentirt wird und dieser
als das höhere Individuum erscheint.

In dieser vortrefflichen Abhandlung Leuckarts war bereits der
doppelte Hinweis darauf gegeben, erstens, dass man auch beim Thiere
wie bei der Pflanze, wenn man die Individualität bestimmen wolle,
Individuen verschiedener Ordnung: Stöcke, Individuen im
engeren Sinne, Organe u. s. w. unterscheiden müsse, und zweitens
dass man wohl zwischen morphologischer und physiologischer
Individualität
zu unterscheiden habe. Leider wurden diese leiten-
den Gesichtspunkte gänzlich vernachlässigt in derjenigen umfangreichen
Abhandlung, welche die Frage von der thierischen Individualität wohl
am ausführlichsten, aber auch am verkehrtesten und verworrensten be-
handelt hat, in Reicherts Schrift „über die monogene Fortpflanzung“
(1852). Es würde uns zu viel Zeit und Raum kosten, aus dieser
breiten, seltsamen Schrift hier auch nur einen oberflächlichen Auszug zu
geben, da allein schon die Uebertragung der eigenthümlichen Ansich-
ten des Verfassers aus ihrem dunkeln mysteriös-philosophischen Ge-
wande in klares, verständliches Deutsch und eine fassliche Explication
der darin versteckten Gedanken einen allzugrossen Raum fortnehmen
würde. Auch sind die allgemeinen Anschauungen, aus welchen
Reichert seine Deductionen ableitet, so oberflächlich und beschränkt,
so unklar und verworren, dass es nicht der Mühe lohnt, sie ernstlich

Haeckel, Generelle Morphologie. 17
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[257/0296] V. Verschiedene Auffassungen des thierischen Individuums. stöcken, auffassen soll. Das ist der Fall insbesondere bei den Cesto- den unter den Würmern, und bei den Siphonophoren unter den Coe- lenteraten, Thiercolonieen, welche man früherhin allgemein für ein- zelne Individuen hielt, während man die individuellen Bestandtheile der Colonie als Organe ansah. Für die Siphonophoren wurde insbeson- dere durch Leuckart in seiner Abhandlung „über den Polymorphis- mus der Individuen oder die Erscheinung der Arbeitstheilung in der Natur“ (1851) der Beweis geführt, dass ihre schwimmenden, von einem einheitlichen Willen beseelten und mit den verschiedenartigsten An- hängen besetzten Körper keine Einzelthiere, sondern Stöcke seien; Colonieen von polymorphen Individuen, welche durch hoch entwickelte Arbeitstheilung in ihrer äusseren Form-Erscheinung weit aus einander gegangen seien. Während sich einerseits durch Vergleichung mit den einfachen polypoiden (hydroiden) und medusoiden Grundformen der Hydromedusen-Klasse leicht der Nachweis führen lässt, dass alle die verschiedenartigen Anhänge des Siphonophoren-Stockes, die Schwimm- glocken, Saugröhren, Tastkolben, Fangfäden u. s. w. den ersteren homolog, ihre morphologischen Aequivalente sind, wird doch anderer- seits die Selbstständigkeit dieser Individuen durch ihre weit gehende Differenzirung so sehr vernichtet, dass die physiologische Einheit des Organismus nur durch den ganzen Stock repräsentirt wird und dieser als das höhere Individuum erscheint. In dieser vortrefflichen Abhandlung Leuckarts war bereits der doppelte Hinweis darauf gegeben, erstens, dass man auch beim Thiere wie bei der Pflanze, wenn man die Individualität bestimmen wolle, Individuen verschiedener Ordnung: Stöcke, Individuen im engeren Sinne, Organe u. s. w. unterscheiden müsse, und zweitens dass man wohl zwischen morphologischer und physiologischer Individualität zu unterscheiden habe. Leider wurden diese leiten- den Gesichtspunkte gänzlich vernachlässigt in derjenigen umfangreichen Abhandlung, welche die Frage von der thierischen Individualität wohl am ausführlichsten, aber auch am verkehrtesten und verworrensten be- handelt hat, in Reicherts Schrift „über die monogene Fortpflanzung“ (1852). Es würde uns zu viel Zeit und Raum kosten, aus dieser breiten, seltsamen Schrift hier auch nur einen oberflächlichen Auszug zu geben, da allein schon die Uebertragung der eigenthümlichen Ansich- ten des Verfassers aus ihrem dunkeln mysteriös-philosophischen Ge- wande in klares, verständliches Deutsch und eine fassliche Explication der darin versteckten Gedanken einen allzugrossen Raum fortnehmen würde. Auch sind die allgemeinen Anschauungen, aus welchen Reichert seine Deductionen ableitet, so oberflächlich und beschränkt, so unklar und verworren, dass es nicht der Mühe lohnt, sie ernstlich Haeckel, Generelle Morphologie. 17

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/296>, abgerufen am 28.11.2024.