Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

Bild:
<< vorherige Seite

Begriff und Aufgabe der Tectologie.
randes Sprossen hervor. Die absterbenden Blätter mancher Zwiebel-
gewächse erzeugen auf ihrer Oberfläche Brutknospen, aus denen neue
Stöcke hervorwachsen. In diesen Fällen sind es kleine Zellengruppen
von unbestimmter Umgrenzung (vielleicht selbst einzelne Zellen), Ana-
phyten,
wie sie Schultz-Schultzenstein genannt hat, welche
das physiologische Individuum repräsentiren, "welche, von der Pflanze
getrennt, selbstständig fortleben, keimen und sich weiter entwickeln
können." Will man hier aber consequent und logisch verfahren und
nicht ganz willkührlich die Grenze der Individualität umschreiben, so
muss man bis auf die Zellen als auf die eigentlichen und letzten
morphologischen Elemente der Pflanze zurückgehen.

Dieser letzte Schritt ist denn auch von bedeutenden Botanikern
geschehen und die Zelle als das eigentliche organische Individuum
betrachtet worden, aus dem sich durch Aggregation der zusammen-
gesetzte Körper aufbaue. Schon Schleiden und Schwann, die Be-
gründer der neueren Zellenlehre, haben die Zelle in diesem Sinne
aufgefasst, und nach ihnen viele Andere. Auch diese Ansicht hat ihre
Berechtigung. Sowohl in physiologischer als in morphologischer Hin-
sicht besitzen die Zellen, und zwar in viel höherem Maasse die pflanz-
lichen als die thierischen Zellen, einen hohen Grad von Individualität,
der ihnen eben ihren bestimmten Character verleiht, und sie als die
eigentlichen Elementar-Organe oder auch Elementar-Organismen er-
scheinen lässt. Als solche sind sie die activen Lebenseinheiten oder
Bionten, deren Summe und Product erst der ganze Organismus mit
allen seinen Leistungen ist.

Allein so wichtige Gründe auch dafür sprechen mögen, die Zelle
als das am meisten selbstständige und absolute Individuum hinzu-
stellen, so begegnen wir doch auch hier unüberwindlichen Schwierig-
keiten, die einer Verallgemeinerung dieser Auffassung sich entgegen-
stellen. Zunächst giebt es eine grosse Anzahl von niederen Organis-
men, auf welche sich diese Bestimmung der Individualität nicht an-
wenden lässt, weil sie weder, gleich den höheren, aus Zellen zu-
sammengesetzt sind, noch auch im Ganzen einer einzigen Zelle ent-
sprechen. Zu diesen niedersten Organismen, welche überhaupt keine
bestimmte Beziehung zur organischen Zelle erkennen lassen, und
die wir desshalb unten als Cytoden den Zellen gegenüber stellen
werden, gehören z. B. viele Rhizopoden, gewisse (kernlose) Algen etc.
Ferner kennen wir viele Beispiele, in denen auch einzelne Theile
einer sogenannten Zelle sich einen hohen Grad von individueller
Selbstständigkeit aneignen und neuen Zellen den Ursprung geben
können. Unter den einzelligen Pflanzen aus der Algengruppe der
Siphoneen giebt es Arten (Bryopsis etc.), bei denen der einzellige
Körper ein fast unbegrenztes Wachsthum zeigt, einen Stock mit vielen

Begriff und Aufgabe der Tectologie.
randes Sprossen hervor. Die absterbenden Blätter mancher Zwiebel-
gewächse erzeugen auf ihrer Oberfläche Brutknospen, aus denen neue
Stöcke hervorwachsen. In diesen Fällen sind es kleine Zellengruppen
von unbestimmter Umgrenzung (vielleicht selbst einzelne Zellen), Ana-
phyten,
wie sie Schultz-Schultzenstein genannt hat, welche
das physiologische Individuum repräsentiren, „welche, von der Pflanze
getrennt, selbstständig fortleben, keimen und sich weiter entwickeln
können.“ Will man hier aber consequent und logisch verfahren und
nicht ganz willkührlich die Grenze der Individualität umschreiben, so
muss man bis auf die Zellen als auf die eigentlichen und letzten
morphologischen Elemente der Pflanze zurückgehen.

Dieser letzte Schritt ist denn auch von bedeutenden Botanikern
geschehen und die Zelle als das eigentliche organische Individuum
betrachtet worden, aus dem sich durch Aggregation der zusammen-
gesetzte Körper aufbaue. Schon Schleiden und Schwann, die Be-
gründer der neueren Zellenlehre, haben die Zelle in diesem Sinne
aufgefasst, und nach ihnen viele Andere. Auch diese Ansicht hat ihre
Berechtigung. Sowohl in physiologischer als in morphologischer Hin-
sicht besitzen die Zellen, und zwar in viel höherem Maasse die pflanz-
lichen als die thierischen Zellen, einen hohen Grad von Individualität,
der ihnen eben ihren bestimmten Character verleiht, und sie als die
eigentlichen Elementar-Organe oder auch Elementar-Organismen er-
scheinen lässt. Als solche sind sie die activen Lebenseinheiten oder
Bionten, deren Summe und Product erst der ganze Organismus mit
allen seinen Leistungen ist.

Allein so wichtige Gründe auch dafür sprechen mögen, die Zelle
als das am meisten selbstständige und absolute Individuum hinzu-
stellen, so begegnen wir doch auch hier unüberwindlichen Schwierig-
keiten, die einer Verallgemeinerung dieser Auffassung sich entgegen-
stellen. Zunächst giebt es eine grosse Anzahl von niederen Organis-
men, auf welche sich diese Bestimmung der Individualität nicht an-
wenden lässt, weil sie weder, gleich den höheren, aus Zellen zu-
sammengesetzt sind, noch auch im Ganzen einer einzigen Zelle ent-
sprechen. Zu diesen niedersten Organismen, welche überhaupt keine
bestimmte Beziehung zur organischen Zelle erkennen lassen, und
die wir desshalb unten als Cytoden den Zellen gegenüber stellen
werden, gehören z. B. viele Rhizopoden, gewisse (kernlose) Algen etc.
Ferner kennen wir viele Beispiele, in denen auch einzelne Theile
einer sogenannten Zelle sich einen hohen Grad von individueller
Selbstständigkeit aneignen und neuen Zellen den Ursprung geben
können. Unter den einzelligen Pflanzen aus der Algengruppe der
Siphoneen giebt es Arten (Bryopsis etc.), bei denen der einzellige
Körper ein fast unbegrenztes Wachsthum zeigt, einen Stock mit vielen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0287" n="248"/><fw place="top" type="header">Begriff und Aufgabe der Tectologie.</fw><lb/>
randes Sprossen hervor. Die absterbenden Blätter mancher Zwiebel-<lb/>
gewächse erzeugen auf ihrer Oberfläche Brutknospen, aus denen neue<lb/>
Stöcke hervorwachsen. In diesen Fällen sind es kleine Zellengruppen<lb/>
von unbestimmter Umgrenzung (vielleicht selbst einzelne Zellen), <hi rendition="#g">Ana-<lb/>
phyten,</hi> wie sie <hi rendition="#g">Schultz-Schultzenstein</hi> genannt hat, welche<lb/>
das physiologische Individuum repräsentiren, &#x201E;welche, von der Pflanze<lb/>
getrennt, selbstständig fortleben, keimen und sich weiter entwickeln<lb/>
können.&#x201C; Will man hier aber consequent und logisch verfahren und<lb/>
nicht ganz willkührlich die Grenze der Individualität umschreiben, so<lb/>
muss man bis auf die <hi rendition="#g">Zellen</hi> als auf die eigentlichen und letzten<lb/>
morphologischen <hi rendition="#g">Elemente</hi> der Pflanze zurückgehen.</p><lb/>
            <p>Dieser letzte Schritt ist denn auch von bedeutenden Botanikern<lb/>
geschehen und die <hi rendition="#g">Zelle</hi> als das eigentliche organische Individuum<lb/>
betrachtet worden, aus dem sich durch Aggregation der zusammen-<lb/>
gesetzte Körper aufbaue. Schon <hi rendition="#g">Schleiden</hi> und <hi rendition="#g">Schwann,</hi> die Be-<lb/>
gründer der neueren Zellenlehre, haben die Zelle in diesem Sinne<lb/>
aufgefasst, und nach ihnen viele Andere. Auch diese Ansicht hat ihre<lb/>
Berechtigung. Sowohl in physiologischer als in morphologischer Hin-<lb/>
sicht besitzen die Zellen, und zwar in viel höherem Maasse die pflanz-<lb/>
lichen als die thierischen Zellen, einen hohen Grad von Individualität,<lb/>
der ihnen eben ihren bestimmten Character verleiht, und sie als die<lb/>
eigentlichen Elementar-Organe oder auch Elementar-Organismen er-<lb/>
scheinen lässt. Als solche sind sie die activen Lebenseinheiten oder<lb/>
Bionten, deren Summe und Product erst der ganze Organismus mit<lb/>
allen seinen Leistungen ist.</p><lb/>
            <p>Allein so wichtige Gründe auch dafür sprechen mögen, die Zelle<lb/>
als das am meisten selbstständige und absolute Individuum hinzu-<lb/>
stellen, so begegnen wir doch auch hier unüberwindlichen Schwierig-<lb/>
keiten, die einer Verallgemeinerung dieser Auffassung sich entgegen-<lb/>
stellen. Zunächst giebt es eine grosse Anzahl von niederen Organis-<lb/>
men, auf welche sich diese Bestimmung der Individualität nicht an-<lb/>
wenden lässt, weil sie weder, gleich den höheren, aus Zellen zu-<lb/>
sammengesetzt sind, noch auch im Ganzen einer einzigen Zelle ent-<lb/>
sprechen. Zu diesen niedersten Organismen, welche überhaupt keine<lb/>
bestimmte Beziehung zur organischen Zelle erkennen lassen, und<lb/>
die wir desshalb unten als Cytoden den Zellen gegenüber stellen<lb/>
werden, gehören z. B. viele Rhizopoden, gewisse (kernlose) Algen etc.<lb/>
Ferner kennen wir viele Beispiele, in denen auch einzelne Theile<lb/>
einer sogenannten Zelle sich einen hohen Grad von individueller<lb/>
Selbstständigkeit aneignen und neuen Zellen den Ursprung geben<lb/>
können. Unter den einzelligen Pflanzen aus der Algengruppe der<lb/>
Siphoneen giebt es Arten (Bryopsis etc.), bei denen der einzellige<lb/>
Körper ein fast unbegrenztes Wachsthum zeigt, einen Stock mit vielen<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[248/0287] Begriff und Aufgabe der Tectologie. randes Sprossen hervor. Die absterbenden Blätter mancher Zwiebel- gewächse erzeugen auf ihrer Oberfläche Brutknospen, aus denen neue Stöcke hervorwachsen. In diesen Fällen sind es kleine Zellengruppen von unbestimmter Umgrenzung (vielleicht selbst einzelne Zellen), Ana- phyten, wie sie Schultz-Schultzenstein genannt hat, welche das physiologische Individuum repräsentiren, „welche, von der Pflanze getrennt, selbstständig fortleben, keimen und sich weiter entwickeln können.“ Will man hier aber consequent und logisch verfahren und nicht ganz willkührlich die Grenze der Individualität umschreiben, so muss man bis auf die Zellen als auf die eigentlichen und letzten morphologischen Elemente der Pflanze zurückgehen. Dieser letzte Schritt ist denn auch von bedeutenden Botanikern geschehen und die Zelle als das eigentliche organische Individuum betrachtet worden, aus dem sich durch Aggregation der zusammen- gesetzte Körper aufbaue. Schon Schleiden und Schwann, die Be- gründer der neueren Zellenlehre, haben die Zelle in diesem Sinne aufgefasst, und nach ihnen viele Andere. Auch diese Ansicht hat ihre Berechtigung. Sowohl in physiologischer als in morphologischer Hin- sicht besitzen die Zellen, und zwar in viel höherem Maasse die pflanz- lichen als die thierischen Zellen, einen hohen Grad von Individualität, der ihnen eben ihren bestimmten Character verleiht, und sie als die eigentlichen Elementar-Organe oder auch Elementar-Organismen er- scheinen lässt. Als solche sind sie die activen Lebenseinheiten oder Bionten, deren Summe und Product erst der ganze Organismus mit allen seinen Leistungen ist. Allein so wichtige Gründe auch dafür sprechen mögen, die Zelle als das am meisten selbstständige und absolute Individuum hinzu- stellen, so begegnen wir doch auch hier unüberwindlichen Schwierig- keiten, die einer Verallgemeinerung dieser Auffassung sich entgegen- stellen. Zunächst giebt es eine grosse Anzahl von niederen Organis- men, auf welche sich diese Bestimmung der Individualität nicht an- wenden lässt, weil sie weder, gleich den höheren, aus Zellen zu- sammengesetzt sind, noch auch im Ganzen einer einzigen Zelle ent- sprechen. Zu diesen niedersten Organismen, welche überhaupt keine bestimmte Beziehung zur organischen Zelle erkennen lassen, und die wir desshalb unten als Cytoden den Zellen gegenüber stellen werden, gehören z. B. viele Rhizopoden, gewisse (kernlose) Algen etc. Ferner kennen wir viele Beispiele, in denen auch einzelne Theile einer sogenannten Zelle sich einen hohen Grad von individueller Selbstständigkeit aneignen und neuen Zellen den Ursprung geben können. Unter den einzelligen Pflanzen aus der Algengruppe der Siphoneen giebt es Arten (Bryopsis etc.), bei denen der einzellige Körper ein fast unbegrenztes Wachsthum zeigt, einen Stock mit vielen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/287
Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/287>, abgerufen am 24.11.2024.