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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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VIII. Character des Pflanzenreiches.
gesetzte Resultat, nämlich die Umsetzung von lebendigen Kräf-
ten in Spannkräfte.
Diese für die Pflanzen am meisten characte-
ristischen Bewegungen, welche den Thieren grösstentheils abgehen,
kann man daher auch als "vegetative Functionen" im engeren Sinne
bezeichnen. Dieselben beruhen wesentlich auf dem characteristischen
Reductions-Process der Pflanzen. Indem die Hauptsumme der chemi-
schen Processe in den Pflanzen darauf hinausläuft, die einfachen und
festen Verbindungen des Wassers, der Kohlensäure und des Ammo-
niaks durch Zersetzung (Reduction) in die verwickelten und lockeren
Kohlenstoff-Verbindungen (Eiweisskörper, Kohlenhydrate, Fette) über-
zuführen, und indem diese Reduction nur unter Einwirkung des Sonnen-
lichts (durch Bindung grosser Quantitäten Licht und Wärme) möglich
ist, verwandeln sie eine grosse Menge freier oder bewegender Kräfte
(Licht, Wärme) in gebundene oder Spannkräfte. Diese letzteren blei-
ben gebunden in den verwickelten Kohlenstoff-Verbindungen, welche
allenthalben in den Pflanzen angehäuft werden. Durch die Bindung
von Wärme, welche für die Bildung der letzteren nothwendig ist, und
welche theils dem Sonnenlichte, theils der Umgebung entzogen wird,
wirken die Pflanzen abkühlend. Sie entwickeln Kälte. In der
massenhaften Bildung und Anhäufung dieser verwickelten Kohlenstoff-
Verbindungen und der in ihnen locker gebundenen Spannkräfte haben
wir den wesentlichsten Character der besonderen pflanzlichen Lebens-
thätigkeit, des eigenthümlichen "Vegetationsprocesses" zu suchen.
Diese Aufspeicherung der Spannkräfte in den Pflanzen ermöglicht
allein die besonderen Lebensbewegungen der Thiere, welche auf einer
Befreiung derselben, auf ihrer Verwandelung in lebendige Kräfte be-
ruhen. Dadurch entwickeln die Thiere die lebendigen Kräfte, welche
sie als thierische Wärme, als Muskelbewegung und Nervenbewegung
äussern. Doch fehlen ähnliche Bewegungen, durch lebendige Kräfte
hervorgebracht, auch in den Pflanzen nicht ganz. Vielmehr entwickeln
auch diese stellenweise und zeitweise Wärme; und bei vielen höheren
Pflanzen kommen sogar verwickelte Bewegungen zur Erscheinung,
welche der Muskel- und Nervenbewegung sich sehr nahe anschliessen.
Vor allen sind hier die ausgezeichneten Erscheinungen der "Reizbar-
keit" an den Blättern der Mimosen oder "Sinnpflanzen" und der
Dionaea muscipula, an den Staubfäden der Centaureen, Berberideen etc.
hervorzuheben. Die mechanische Arbeit, welche hier gewisse Theile
der Pflanze leisten, ist durchaus der Muskelcontraction analog, und
wird sogar oft in gleicher Weise durch Ketten von "Auslösungen"
hervorgerufen, wie es bei den Nervenbewegungen der Thiere der Fall
ist. In dieser Beziehung sind namentlich die bekannten Bewegungen
der "reizbaren" Mimosen äusserst merkwürdig, indem sie durchaus
den Reflexbewegungen der Thiere analog sind. Dagegen ist es

Haeckel, Generelle Morphologie. 15

VIII. Character des Pflanzenreiches.
gesetzte Resultat, nämlich die Umsetzung von lebendigen Kräf-
ten in Spannkräfte.
Diese für die Pflanzen am meisten characte-
ristischen Bewegungen, welche den Thieren grösstentheils abgehen,
kann man daher auch als „vegetative Functionen“ im engeren Sinne
bezeichnen. Dieselben beruhen wesentlich auf dem characteristischen
Reductions-Process der Pflanzen. Indem die Hauptsumme der chemi-
schen Processe in den Pflanzen darauf hinausläuft, die einfachen und
festen Verbindungen des Wassers, der Kohlensäure und des Ammo-
niaks durch Zersetzung (Reduction) in die verwickelten und lockeren
Kohlenstoff-Verbindungen (Eiweisskörper, Kohlenhydrate, Fette) über-
zuführen, und indem diese Reduction nur unter Einwirkung des Sonnen-
lichts (durch Bindung grosser Quantitäten Licht und Wärme) möglich
ist, verwandeln sie eine grosse Menge freier oder bewegender Kräfte
(Licht, Wärme) in gebundene oder Spannkräfte. Diese letzteren blei-
ben gebunden in den verwickelten Kohlenstoff-Verbindungen, welche
allenthalben in den Pflanzen angehäuft werden. Durch die Bindung
von Wärme, welche für die Bildung der letzteren nothwendig ist, und
welche theils dem Sonnenlichte, theils der Umgebung entzogen wird,
wirken die Pflanzen abkühlend. Sie entwickeln Kälte. In der
massenhaften Bildung und Anhäufung dieser verwickelten Kohlenstoff-
Verbindungen und der in ihnen locker gebundenen Spannkräfte haben
wir den wesentlichsten Character der besonderen pflanzlichen Lebens-
thätigkeit, des eigenthümlichen „Vegetationsprocesses“ zu suchen.
Diese Aufspeicherung der Spannkräfte in den Pflanzen ermöglicht
allein die besonderen Lebensbewegungen der Thiere, welche auf einer
Befreiung derselben, auf ihrer Verwandelung in lebendige Kräfte be-
ruhen. Dadurch entwickeln die Thiere die lebendigen Kräfte, welche
sie als thierische Wärme, als Muskelbewegung und Nervenbewegung
äussern. Doch fehlen ähnliche Bewegungen, durch lebendige Kräfte
hervorgebracht, auch in den Pflanzen nicht ganz. Vielmehr entwickeln
auch diese stellenweise und zeitweise Wärme; und bei vielen höheren
Pflanzen kommen sogar verwickelte Bewegungen zur Erscheinung,
welche der Muskel- und Nervenbewegung sich sehr nahe anschliessen.
Vor allen sind hier die ausgezeichneten Erscheinungen der „Reizbar-
keit“ an den Blättern der Mimosen oder „Sinnpflanzen“ und der
Dionaea muscipula, an den Staubfäden der Centaureen, Berberideen etc.
hervorzuheben. Die mechanische Arbeit, welche hier gewisse Theile
der Pflanze leisten, ist durchaus der Muskelcontraction analog, und
wird sogar oft in gleicher Weise durch Ketten von „Auslösungen“
hervorgerufen, wie es bei den Nervenbewegungen der Thiere der Fall
ist. In dieser Beziehung sind namentlich die bekannten Bewegungen
der „reizbaren“ Mimosen äusserst merkwürdig, indem sie durchaus
den Reflexbewegungen der Thiere analog sind. Dagegen ist es

Haeckel, Generelle Morphologie. 15
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[225/0264] VIII. Character des Pflanzenreiches. gesetzte Resultat, nämlich die Umsetzung von lebendigen Kräf- ten in Spannkräfte. Diese für die Pflanzen am meisten characte- ristischen Bewegungen, welche den Thieren grösstentheils abgehen, kann man daher auch als „vegetative Functionen“ im engeren Sinne bezeichnen. Dieselben beruhen wesentlich auf dem characteristischen Reductions-Process der Pflanzen. Indem die Hauptsumme der chemi- schen Processe in den Pflanzen darauf hinausläuft, die einfachen und festen Verbindungen des Wassers, der Kohlensäure und des Ammo- niaks durch Zersetzung (Reduction) in die verwickelten und lockeren Kohlenstoff-Verbindungen (Eiweisskörper, Kohlenhydrate, Fette) über- zuführen, und indem diese Reduction nur unter Einwirkung des Sonnen- lichts (durch Bindung grosser Quantitäten Licht und Wärme) möglich ist, verwandeln sie eine grosse Menge freier oder bewegender Kräfte (Licht, Wärme) in gebundene oder Spannkräfte. Diese letzteren blei- ben gebunden in den verwickelten Kohlenstoff-Verbindungen, welche allenthalben in den Pflanzen angehäuft werden. Durch die Bindung von Wärme, welche für die Bildung der letzteren nothwendig ist, und welche theils dem Sonnenlichte, theils der Umgebung entzogen wird, wirken die Pflanzen abkühlend. Sie entwickeln Kälte. In der massenhaften Bildung und Anhäufung dieser verwickelten Kohlenstoff- Verbindungen und der in ihnen locker gebundenen Spannkräfte haben wir den wesentlichsten Character der besonderen pflanzlichen Lebens- thätigkeit, des eigenthümlichen „Vegetationsprocesses“ zu suchen. Diese Aufspeicherung der Spannkräfte in den Pflanzen ermöglicht allein die besonderen Lebensbewegungen der Thiere, welche auf einer Befreiung derselben, auf ihrer Verwandelung in lebendige Kräfte be- ruhen. Dadurch entwickeln die Thiere die lebendigen Kräfte, welche sie als thierische Wärme, als Muskelbewegung und Nervenbewegung äussern. Doch fehlen ähnliche Bewegungen, durch lebendige Kräfte hervorgebracht, auch in den Pflanzen nicht ganz. Vielmehr entwickeln auch diese stellenweise und zeitweise Wärme; und bei vielen höheren Pflanzen kommen sogar verwickelte Bewegungen zur Erscheinung, welche der Muskel- und Nervenbewegung sich sehr nahe anschliessen. Vor allen sind hier die ausgezeichneten Erscheinungen der „Reizbar- keit“ an den Blättern der Mimosen oder „Sinnpflanzen“ und der Dionaea muscipula, an den Staubfäden der Centaureen, Berberideen etc. hervorzuheben. Die mechanische Arbeit, welche hier gewisse Theile der Pflanze leisten, ist durchaus der Muskelcontraction analog, und wird sogar oft in gleicher Weise durch Ketten von „Auslösungen“ hervorgerufen, wie es bei den Nervenbewegungen der Thiere der Fall ist. In dieser Beziehung sind namentlich die bekannten Bewegungen der „reizbaren“ Mimosen äusserst merkwürdig, indem sie durchaus den Reflexbewegungen der Thiere analog sind. Dagegen ist es Haeckel, Generelle Morphologie. 15

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/264>, abgerufen am 24.11.2024.