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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Vorwort.
frage der organischen Morphologie, welche gewissermassen
das Feldgeschrei der beiden feindlichen Heere bildet, das
Problem von der Constanz oder Transmutation der Species
hat mich schon lebhaft interessirt, als ich vor nunmehr zwan-
zig Jahren, als zwölfjähriger Knabe, zum ersten Male mit
leidenschaftlichem Eifer die "guten und schlechten Species"
der Brombeeren und Weiden, Rosen und Disteln vergeb-
lich zu bestimmen und zu unterscheiden suchte. Mit heiterer
Genugthuung muss ich jetzt der kritischen Beängstigungen
gedenken, welche damals mein zweifelsüchtiges Knabengemüth
in die schmerzlichste Aufregung versetzten, da ich bestän-
dig hin und her schwankte, ob ich (nach Art der meisten
sogenannten "guten Systematiker") die "guten" Exemplare
allein in das Herbarium aufnehmen und die "schlechten" aus-
weisen, oder aber durch Aufnahme der letzteren eine voll-
ständige Kette von vermittelnden Uebergangsformen zwischen
den "guten Arten" herstellen sollte, welche die Illusion von
deren "Güte" vernichteten. Ich beseitigte diesen Zwiespalt
damals durch einen Compromiss, welchen ich allen Systema-
tikern zur Nachahmung empfehlen kann: ich legte zwei Her-
barien an, ein officielles, welches den theilnehmenden Be-
schauern alle Arten in "typischen" Exemplaren als grundver-
schiedene Formen, jede mit ihrer schönen Etikette beklebt,
vor Augen führte, und ein geheimes, nur einem vertrauten
Freunde zugängliches, in welchem nur die verdächtigen Genera
Aufnahme fanden, welche Goethe treffend die "charakter-
losen oder liederlichen Geschlechter" genannt hat, "denen man
vielleicht kaum Species zuschreiben darf, da sie sich in grän-
zenlose Varietäten verlieren": Rubus, Salix, Verbascum, Hie-
racium, Rosa, Cirsium
etc. Hier zeigten Massen von Indivi-
duen, nach Nummern in eine lange Kette geordnet, den un-

Vorwort.
frage der organischen Morphologie, welche gewissermassen
das Feldgeschrei der beiden feindlichen Heere bildet, das
Problem von der Constanz oder Transmutation der Species
hat mich schon lebhaft interessirt, als ich vor nunmehr zwan-
zig Jahren, als zwölfjähriger Knabe, zum ersten Male mit
leidenschaftlichem Eifer die „guten und schlechten Species“
der Brombeeren und Weiden, Rosen und Disteln vergeb-
lich zu bestimmen und zu unterscheiden suchte. Mit heiterer
Genugthuung muss ich jetzt der kritischen Beängstigungen
gedenken, welche damals mein zweifelsüchtiges Knabengemüth
in die schmerzlichste Aufregung versetzten, da ich bestän-
dig hin und her schwankte, ob ich (nach Art der meisten
sogenannten „guten Systematiker“) die „guten“ Exemplare
allein in das Herbarium aufnehmen und die „schlechten“ aus-
weisen, oder aber durch Aufnahme der letzteren eine voll-
ständige Kette von vermittelnden Uebergangsformen zwischen
den „guten Arten“ herstellen sollte, welche die Illusion von
deren „Güte“ vernichteten. Ich beseitigte diesen Zwiespalt
damals durch einen Compromiss, welchen ich allen Systema-
tikern zur Nachahmung empfehlen kann: ich legte zwei Her-
barien an, ein officielles, welches den theilnehmenden Be-
schauern alle Arten in „typischen“ Exemplaren als grundver-
schiedene Formen, jede mit ihrer schönen Etikette beklebt,
vor Augen führte, und ein geheimes, nur einem vertrauten
Freunde zugängliches, in welchem nur die verdächtigen Genera
Aufnahme fanden, welche Goethe treffend die „charakter-
losen oder liederlichen Geschlechter“ genannt hat, „denen man
vielleicht kaum Species zuschreiben darf, da sie sich in grän-
zenlose Varietäten verlieren“: Rubus, Salix, Verbascum, Hie-
racium, Rosa, Cirsium
etc. Hier zeigten Massen von Indivi-
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[XVI/0023] Vorwort. frage der organischen Morphologie, welche gewissermassen das Feldgeschrei der beiden feindlichen Heere bildet, das Problem von der Constanz oder Transmutation der Species hat mich schon lebhaft interessirt, als ich vor nunmehr zwan- zig Jahren, als zwölfjähriger Knabe, zum ersten Male mit leidenschaftlichem Eifer die „guten und schlechten Species“ der Brombeeren und Weiden, Rosen und Disteln vergeb- lich zu bestimmen und zu unterscheiden suchte. Mit heiterer Genugthuung muss ich jetzt der kritischen Beängstigungen gedenken, welche damals mein zweifelsüchtiges Knabengemüth in die schmerzlichste Aufregung versetzten, da ich bestän- dig hin und her schwankte, ob ich (nach Art der meisten sogenannten „guten Systematiker“) die „guten“ Exemplare allein in das Herbarium aufnehmen und die „schlechten“ aus- weisen, oder aber durch Aufnahme der letzteren eine voll- ständige Kette von vermittelnden Uebergangsformen zwischen den „guten Arten“ herstellen sollte, welche die Illusion von deren „Güte“ vernichteten. Ich beseitigte diesen Zwiespalt damals durch einen Compromiss, welchen ich allen Systema- tikern zur Nachahmung empfehlen kann: ich legte zwei Her- barien an, ein officielles, welches den theilnehmenden Be- schauern alle Arten in „typischen“ Exemplaren als grundver- schiedene Formen, jede mit ihrer schönen Etikette beklebt, vor Augen führte, und ein geheimes, nur einem vertrauten Freunde zugängliches, in welchem nur die verdächtigen Genera Aufnahme fanden, welche Goethe treffend die „charakter- losen oder liederlichen Geschlechter“ genannt hat, „denen man vielleicht kaum Species zuschreiben darf, da sie sich in grän- zenlose Varietäten verlieren“: Rubus, Salix, Verbascum, Hie- racium, Rosa, Cirsium etc. Hier zeigten Massen von Indivi- duen, nach Nummern in eine lange Kette geordnet, den un-

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. XVI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/23>, abgerufen am 23.11.2024.