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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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IV. Selbstzeugung oder Autogonie.
anderen verwickelteren Kohlenstoff-Verbindungen sind wir gewohnt, als
innerhalb bestehender Organismen entstanden zu betrachten. Doch ist zu
erwarten, dass sich unsere Anschauungen in diesem Punkte gewaltig ändern
werden. Noch nicht lange ist es her, dass man allgemein behauptete, dass
sämmtliche sogenannte "organische" Verbindungen ausschliesslich innerhalb
der Organismen (vermittelst der mystischen "Lebenskraft") erzeugt würden,
und dass wir gänzlich unvermögend seien, dergleichen Kohlenstoff-Verbin-
dungen in unseren Laboratorien künstlich herzustellen. Als dann später
(1828) Wöhler dieses Dogma zuerst widerlegte und aus cyansaurem Am-
moniak zum ersten Male Harnstoff darstellte, galt dies lange Zeit für die
einzige Ausnahme. Jetzt kennt man solche Ausnahmen in Masse, und man
stellt nicht allein einfachere "organische" oder Kohlenstoff-Verbindungen,
sondern auch complicirtere, Alkohol, Ameisensäure etc., in unseren Labo-
ratorien nach Belieben aus den Elementen auf rein "anorganischem"
Wege her.1)

1) Wir heben das Schicksal dieses Dogma, welches so lange und allgemein
im höchsten Ansehen stand, und die ganze Chemie beherrschte, und welches in
Folge der neueren Erfahrungen allgemein verlassen ist, desshalb hier besonders
hervor, weil wir dem Dogma von der Unmöglichkeit der Generatio spontanea
(von welcher unsere Autogonie nur eine bestimmte Modification ist) mit Sicher-
heit denselben letalen Ausgang prognosticiren können. Es wird hier die schon
öfter beobachtete Erscheinung eintreten, dass mit dem definitiven Falle des einen
Dogma zugleich eine ganze Reihe von anderen zusammenstürzen, die mehr oder
minder unlösbar mit ihm verkettet sind. Eine solche Kette von solidarisch ver-
bundenen Dogmen bildeten im vierten und fünften Decennium unseres Jahrhun-
derts die Lehren von der ausschliesslichen Erzeugung organischer Substanzen inner-
halb des Organismus, die Lehre von der Lebenskraft, die Lehre von der Constanz der
Species, die Lehre von der Unmöglichkeit der Parthenogenesis, die Lehre von der
Unmöglichkeit der Urzeugung und viele Andere von mehr oder minder allgemeiner Be-
deutung. Die meisten dieser Dogmen sind schon jetzt entweder völlig umgestossen,
oder derart in ihren Fundamenten erschüttert, dass sie über Kurz oder Lang noth-
wendig zusammenstürzen müssen. Ich persönlich bin ein um so entschiedenerer
Feind dieser Dogmen und darf mich um so rücksichtsloser dagegen aussprechen,
als ich selbst früher in denselben blind befangen war. Als treuer Schüler und
aufrichtiger Bewunderer von Johannes Müller war ich von den Lehren meines
grossen Meisters so sehr eingenommen, dass ich auch der Macht seiner vitalisti-
schen Vorurtheile mich nicht entziehen konnte, und die damit verbundenen
Dogmen von der Constanz der Species, von der Nichtexistenz der Generatio
aequivoca, von der zweckmässigen Wirksamkeit der gestaltenden Lebenskraft etc.
vollständig theilte, ohne an ihrer Begründung zu zweifeln. In meiner Doctor-
Dissertation lautete die erste These, welche ich am 7. März 1857 gegen meinen
Freund E. Claparede öffentlich vertheidigte: "Formatio cellularum libera, et
physiologica et pathologica, haud minus quam generatio animalium et plantarum
spontanea rejicienda est." Um so eher wird man es mir verzeihen, wenn ich
jetzt, in besserer kritischer Erkenntniss der Wahrheit, die mit jenen vitalistisch-
teleologischen Dogmen verbundenen Vorurtheile als solche anerkenne, rücksichts-
los bekämpfe und die monistische Naturerkenntniss als die einzig zum Ziele

IV. Selbstzeugung oder Autogonie.
anderen verwickelteren Kohlenstoff-Verbindungen sind wir gewohnt, als
innerhalb bestehender Organismen entstanden zu betrachten. Doch ist zu
erwarten, dass sich unsere Anschauungen in diesem Punkte gewaltig ändern
werden. Noch nicht lange ist es her, dass man allgemein behauptete, dass
sämmtliche sogenannte „organische“ Verbindungen ausschliesslich innerhalb
der Organismen (vermittelst der mystischen „Lebenskraft“) erzeugt würden,
und dass wir gänzlich unvermögend seien, dergleichen Kohlenstoff-Verbin-
dungen in unseren Laboratorien künstlich herzustellen. Als dann später
(1828) Wöhler dieses Dogma zuerst widerlegte und aus cyansaurem Am-
moniak zum ersten Male Harnstoff darstellte, galt dies lange Zeit für die
einzige Ausnahme. Jetzt kennt man solche Ausnahmen in Masse, und man
stellt nicht allein einfachere „organische“ oder Kohlenstoff-Verbindungen,
sondern auch complicirtere, Alkohol, Ameisensäure etc., in unseren Labo-
ratorien nach Belieben aus den Elementen auf rein „anorganischem“
Wege her.1)

1) Wir heben das Schicksal dieses Dogma, welches so lange und allgemein
im höchsten Ansehen stand, und die ganze Chemie beherrschte, und welches in
Folge der neueren Erfahrungen allgemein verlassen ist, desshalb hier besonders
hervor, weil wir dem Dogma von der Unmöglichkeit der Generatio spontanea
(von welcher unsere Autogonie nur eine bestimmte Modification ist) mit Sicher-
heit denselben letalen Ausgang prognosticiren können. Es wird hier die schon
öfter beobachtete Erscheinung eintreten, dass mit dem definitiven Falle des einen
Dogma zugleich eine ganze Reihe von anderen zusammenstürzen, die mehr oder
minder unlösbar mit ihm verkettet sind. Eine solche Kette von solidarisch ver-
bundenen Dogmen bildeten im vierten und fünften Decennium unseres Jahrhun-
derts die Lehren von der ausschliesslichen Erzeugung organischer Substanzen inner-
halb des Organismus, die Lehre von der Lebenskraft, die Lehre von der Constanz der
Species, die Lehre von der Unmöglichkeit der Parthenogenesis, die Lehre von der
Unmöglichkeit der Urzeugung und viele Andere von mehr oder minder allgemeiner Be-
deutung. Die meisten dieser Dogmen sind schon jetzt entweder völlig umgestossen,
oder derart in ihren Fundamenten erschüttert, dass sie über Kurz oder Lang noth-
wendig zusammenstürzen müssen. Ich persönlich bin ein um so entschiedenerer
Feind dieser Dogmen und darf mich um so rücksichtsloser dagegen aussprechen,
als ich selbst früher in denselben blind befangen war. Als treuer Schüler und
aufrichtiger Bewunderer von Johannes Müller war ich von den Lehren meines
grossen Meisters so sehr eingenommen, dass ich auch der Macht seiner vitalisti-
schen Vorurtheile mich nicht entziehen konnte, und die damit verbundenen
Dogmen von der Constanz der Species, von der Nichtexistenz der Generatio
aequivoca, von der zweckmässigen Wirksamkeit der gestaltenden Lebenskraft etc.
vollständig theilte, ohne an ihrer Begründung zu zweifeln. In meiner Doctor-
Dissertation lautete die erste These, welche ich am 7. März 1857 gegen meinen
Freund E. Claparède öffentlich vertheidigte: „Formatio cellularum libera, et
physiologica et pathologica, haud minus quam generatio animalium et plantarum
spontanea rejicienda est.“ Um so eher wird man es mir verzeihen, wenn ich
jetzt, in besserer kritischer Erkenntniss der Wahrheit, die mit jenen vitalistisch-
teleologischen Dogmen verbundenen Vorurtheile als solche anerkenne, rücksichts-
los bekämpfe und die monistische Naturerkenntniss als die einzig zum Ziele
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[189/0228] IV. Selbstzeugung oder Autogonie. anderen verwickelteren Kohlenstoff-Verbindungen sind wir gewohnt, als innerhalb bestehender Organismen entstanden zu betrachten. Doch ist zu erwarten, dass sich unsere Anschauungen in diesem Punkte gewaltig ändern werden. Noch nicht lange ist es her, dass man allgemein behauptete, dass sämmtliche sogenannte „organische“ Verbindungen ausschliesslich innerhalb der Organismen (vermittelst der mystischen „Lebenskraft“) erzeugt würden, und dass wir gänzlich unvermögend seien, dergleichen Kohlenstoff-Verbin- dungen in unseren Laboratorien künstlich herzustellen. Als dann später (1828) Wöhler dieses Dogma zuerst widerlegte und aus cyansaurem Am- moniak zum ersten Male Harnstoff darstellte, galt dies lange Zeit für die einzige Ausnahme. Jetzt kennt man solche Ausnahmen in Masse, und man stellt nicht allein einfachere „organische“ oder Kohlenstoff-Verbindungen, sondern auch complicirtere, Alkohol, Ameisensäure etc., in unseren Labo- ratorien nach Belieben aus den Elementen auf rein „anorganischem“ Wege her. 1) 1) Wir heben das Schicksal dieses Dogma, welches so lange und allgemein im höchsten Ansehen stand, und die ganze Chemie beherrschte, und welches in Folge der neueren Erfahrungen allgemein verlassen ist, desshalb hier besonders hervor, weil wir dem Dogma von der Unmöglichkeit der Generatio spontanea (von welcher unsere Autogonie nur eine bestimmte Modification ist) mit Sicher- heit denselben letalen Ausgang prognosticiren können. Es wird hier die schon öfter beobachtete Erscheinung eintreten, dass mit dem definitiven Falle des einen Dogma zugleich eine ganze Reihe von anderen zusammenstürzen, die mehr oder minder unlösbar mit ihm verkettet sind. Eine solche Kette von solidarisch ver- bundenen Dogmen bildeten im vierten und fünften Decennium unseres Jahrhun- derts die Lehren von der ausschliesslichen Erzeugung organischer Substanzen inner- halb des Organismus, die Lehre von der Lebenskraft, die Lehre von der Constanz der Species, die Lehre von der Unmöglichkeit der Parthenogenesis, die Lehre von der Unmöglichkeit der Urzeugung und viele Andere von mehr oder minder allgemeiner Be- deutung. Die meisten dieser Dogmen sind schon jetzt entweder völlig umgestossen, oder derart in ihren Fundamenten erschüttert, dass sie über Kurz oder Lang noth- wendig zusammenstürzen müssen. Ich persönlich bin ein um so entschiedenerer Feind dieser Dogmen und darf mich um so rücksichtsloser dagegen aussprechen, als ich selbst früher in denselben blind befangen war. Als treuer Schüler und aufrichtiger Bewunderer von Johannes Müller war ich von den Lehren meines grossen Meisters so sehr eingenommen, dass ich auch der Macht seiner vitalisti- schen Vorurtheile mich nicht entziehen konnte, und die damit verbundenen Dogmen von der Constanz der Species, von der Nichtexistenz der Generatio aequivoca, von der zweckmässigen Wirksamkeit der gestaltenden Lebenskraft etc. vollständig theilte, ohne an ihrer Begründung zu zweifeln. In meiner Doctor- Dissertation lautete die erste These, welche ich am 7. März 1857 gegen meinen Freund E. Claparède öffentlich vertheidigte: „Formatio cellularum libera, et physiologica et pathologica, haud minus quam generatio animalium et plantarum spontanea rejicienda est.“ Um so eher wird man es mir verzeihen, wenn ich jetzt, in besserer kritischer Erkenntniss der Wahrheit, die mit jenen vitalistisch- teleologischen Dogmen verbundenen Vorurtheile als solche anerkenne, rücksichts- los bekämpfe und die monistische Naturerkenntniss als die einzig zum Ziele

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/228>, abgerufen am 26.11.2024.