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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Schöpfung und Selbstzeugung.
die Materie bietet, als solcher unangreifbar ist? Eine Kraft, welche
materielle Bewegungserscheinungen hervorruft, ohne selbst materiell
zu sein? Eine Kraft, die eine Bewegung ohne Anziehung und ohne
Abstossung, mithin eine Wirkung ohne Ursache hervorrufen würde?
Wir gestehen offen, dass wir persönlich vollkommen unfähig sind, uns
irgend eine denkbare Vorstellung von einer solchen immateriellen
Kraft zu machen, und dass wir unter den zahllosen Definitionen und
Darstellungen, welche von solchen immateriellen Kräften unter den
verschiedensten Namen gegeben werden, nicht eine einzige gefunden
haben, die nicht vollständig mit den allgemeinsten und unmittelbarsten
sinnlichen Erfahrungen, sowie mit den wichtigsten und obersten Grund-
gesetzen der Naturwissenschaft (und vor Allem mit dem Causal-Gesetze)
unvereinbar wäre.1)

1) Den Physikern und Chemikern, sowie den Physiologen dürfte es über-
flüssig erscheinen, über diese ersten Grundsätze der Naturforschung noch ein
Wort zu verlieren: kein Physiker, kein Chemiker, kein Physiolog -- so lange
er consequent und rücksichtslos denkt -- kennt eine Kraft ohne Stoff oder
glaubt an eine ausser der Materie stehende Kraft. Nur unter den Morphologen
sind diese falschen Vorstellungen noch so verbreitet, dass wir sie hier nothwen-
dig widerlegen müssen, und in einem Punkte, nämlich gerade in der hier vor-
liegenden Frage von der ersten Entstehung der Organismen, sind die alten ein-
gerosteten dualistischen Vorurtheile sehr allgemeiu verbreitet, und werden selbst
von vielen trefflichen, im Uebrigen vollkommen monistischen Naturforschern ge-
theilt. Sobald man übrigens die verschiedenen immateriellen Kräfte, welche als
"Geist, Seele, Lebenskraft, Schöpferkraft" etc. ein eben so verbreitetes als un-
verdientes Ansehen geniessen, eingehender untersucht, so ergiebt sich, dass
diese sogenannten reinen, nicht materiellen Kräfte durchaus materiell vorgestellt
werden, nämlich entweder als gasförmige Materien oder als feinere (schwerelose
oder unwägbare) Materien, gleich dem Wärme-Aether etc. In der bewunderns-
würdigen Widerlegung der Lebenskraft, welche schon vor 70 Jahren Reil im
ersten Bande seines Archivs für Physiologie (1796) gegeben hat, findet sich hier-
über folgende treffliche Analyse: "Anfangs fielen wohl nur die groben und trägen
Massen den Menschen auf, und in der Folge beobachteten sie erst die Erschei-
nungen der feinen Stoffe in der Natur. Sie empfanden in der Luft und im
Winde Wirkungen eines Wesens, das sie mit den Augen nicht wahrnahmen,
und welches sich vorzüglich durch seine Beweglichkeit vor den trägen und gro-
ben Massen auszeichnete. Diese Beobachtung brachte sie nach und nach auf
die Meinung, dass Bewegung und Leben von einem solchen feinen und unsicht-
baren Wesen abhänge. Durch die Eigenschaften der feinen Stoffe wurden sie
auf die Idee von Geistern geleitet, und sie characterisirten dieselben
durch die vorzüglichsten Merkmale der Luft, durch Unsichtbarkeit
und Beweglichkeit.
Man legte sogar dem Geiste überhaupt in der hebräi-
schen und fast in allen alten Sprachen die Namen Luft oder Wind (Spiritus)
bei." (l. c. p. 11, 12). "Mit eben dem Rechte, mit welchem wir den Thieren
(und also auch den Menschen) eine Seele beilegen, um ihre thierischen Wir-
kungen daraus zu erklären, können wir auch für die Schwere und Cohärenz eigene
Geister annehmen, die erst der Materie die Eigenschaft, als schwere und zusam-
menhaftende Materie zu wirken, mittheilen." (l. c. p. 14).

Schöpfung und Selbstzeugung.
die Materie bietet, als solcher unangreifbar ist? Eine Kraft, welche
materielle Bewegungserscheinungen hervorruft, ohne selbst materiell
zu sein? Eine Kraft, die eine Bewegung ohne Anziehung und ohne
Abstossung, mithin eine Wirkung ohne Ursache hervorrufen würde?
Wir gestehen offen, dass wir persönlich vollkommen unfähig sind, uns
irgend eine denkbare Vorstellung von einer solchen immateriellen
Kraft zu machen, und dass wir unter den zahllosen Definitionen und
Darstellungen, welche von solchen immateriellen Kräften unter den
verschiedensten Namen gegeben werden, nicht eine einzige gefunden
haben, die nicht vollständig mit den allgemeinsten und unmittelbarsten
sinnlichen Erfahrungen, sowie mit den wichtigsten und obersten Grund-
gesetzen der Naturwissenschaft (und vor Allem mit dem Causal-Gesetze)
unvereinbar wäre.1)

1) Den Physikern und Chemikern, sowie den Physiologen dürfte es über-
flüssig erscheinen, über diese ersten Grundsätze der Naturforschung noch ein
Wort zu verlieren: kein Physiker, kein Chemiker, kein Physiolog — so lange
er consequent und rücksichtslos denkt — kennt eine Kraft ohne Stoff oder
glaubt an eine ausser der Materie stehende Kraft. Nur unter den Morphologen
sind diese falschen Vorstellungen noch so verbreitet, dass wir sie hier nothwen-
dig widerlegen müssen, und in einem Punkte, nämlich gerade in der hier vor-
liegenden Frage von der ersten Entstehung der Organismen, sind die alten ein-
gerosteten dualistischen Vorurtheile sehr allgemeiu verbreitet, und werden selbst
von vielen trefflichen, im Uebrigen vollkommen monistischen Naturforschern ge-
theilt. Sobald man übrigens die verschiedenen immateriellen Kräfte, welche als
„Geist, Seele, Lebenskraft, Schöpferkraft“ etc. ein eben so verbreitetes als un-
verdientes Ansehen geniessen, eingehender untersucht, so ergiebt sich, dass
diese sogenannten reinen, nicht materiellen Kräfte durchaus materiell vorgestellt
werden, nämlich entweder als gasförmige Materien oder als feinere (schwerelose
oder unwägbare) Materien, gleich dem Wärme-Aether etc. In der bewunderns-
würdigen Widerlegung der Lebenskraft, welche schon vor 70 Jahren Reil im
ersten Bande seines Archivs für Physiologie (1796) gegeben hat, findet sich hier-
über folgende treffliche Analyse: „Anfangs fielen wohl nur die groben und trägen
Massen den Menschen auf, und in der Folge beobachteten sie erst die Erschei-
nungen der feinen Stoffe in der Natur. Sie empfanden in der Luft und im
Winde Wirkungen eines Wesens, das sie mit den Augen nicht wahrnahmen,
und welches sich vorzüglich durch seine Beweglichkeit vor den trägen und gro-
ben Massen auszeichnete. Diese Beobachtung brachte sie nach und nach auf
die Meinung, dass Bewegung und Leben von einem solchen feinen und unsicht-
baren Wesen abhänge. Durch die Eigenschaften der feinen Stoffe wurden sie
auf die Idee von Geistern geleitet, und sie characterisirten dieselben
durch die vorzüglichsten Merkmale der Luft, durch Unsichtbarkeit
und Beweglichkeit.
Man legte sogar dem Geiste überhaupt in der hebräi-
schen und fast in allen alten Sprachen die Namen Luft oder Wind (Spiritus)
bei.“ (l. c. p. 11, 12). „Mit eben dem Rechte, mit welchem wir den Thieren
(und also auch den Menschen) eine Seele beilegen, um ihre thierischen Wir-
kungen daraus zu erklären, können wir auch für die Schwere und Cohärenz eigene
Geister annehmen, die erst der Materie die Eigenschaft, als schwere und zusam-
menhaftende Materie zu wirken, mittheilen.“ (l. c. p. 14).
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[172/0211] Schöpfung und Selbstzeugung. die Materie bietet, als solcher unangreifbar ist? Eine Kraft, welche materielle Bewegungserscheinungen hervorruft, ohne selbst materiell zu sein? Eine Kraft, die eine Bewegung ohne Anziehung und ohne Abstossung, mithin eine Wirkung ohne Ursache hervorrufen würde? Wir gestehen offen, dass wir persönlich vollkommen unfähig sind, uns irgend eine denkbare Vorstellung von einer solchen immateriellen Kraft zu machen, und dass wir unter den zahllosen Definitionen und Darstellungen, welche von solchen immateriellen Kräften unter den verschiedensten Namen gegeben werden, nicht eine einzige gefunden haben, die nicht vollständig mit den allgemeinsten und unmittelbarsten sinnlichen Erfahrungen, sowie mit den wichtigsten und obersten Grund- gesetzen der Naturwissenschaft (und vor Allem mit dem Causal-Gesetze) unvereinbar wäre. 1) 1) Den Physikern und Chemikern, sowie den Physiologen dürfte es über- flüssig erscheinen, über diese ersten Grundsätze der Naturforschung noch ein Wort zu verlieren: kein Physiker, kein Chemiker, kein Physiolog — so lange er consequent und rücksichtslos denkt — kennt eine Kraft ohne Stoff oder glaubt an eine ausser der Materie stehende Kraft. Nur unter den Morphologen sind diese falschen Vorstellungen noch so verbreitet, dass wir sie hier nothwen- dig widerlegen müssen, und in einem Punkte, nämlich gerade in der hier vor- liegenden Frage von der ersten Entstehung der Organismen, sind die alten ein- gerosteten dualistischen Vorurtheile sehr allgemeiu verbreitet, und werden selbst von vielen trefflichen, im Uebrigen vollkommen monistischen Naturforschern ge- theilt. Sobald man übrigens die verschiedenen immateriellen Kräfte, welche als „Geist, Seele, Lebenskraft, Schöpferkraft“ etc. ein eben so verbreitetes als un- verdientes Ansehen geniessen, eingehender untersucht, so ergiebt sich, dass diese sogenannten reinen, nicht materiellen Kräfte durchaus materiell vorgestellt werden, nämlich entweder als gasförmige Materien oder als feinere (schwerelose oder unwägbare) Materien, gleich dem Wärme-Aether etc. In der bewunderns- würdigen Widerlegung der Lebenskraft, welche schon vor 70 Jahren Reil im ersten Bande seines Archivs für Physiologie (1796) gegeben hat, findet sich hier- über folgende treffliche Analyse: „Anfangs fielen wohl nur die groben und trägen Massen den Menschen auf, und in der Folge beobachteten sie erst die Erschei- nungen der feinen Stoffe in der Natur. Sie empfanden in der Luft und im Winde Wirkungen eines Wesens, das sie mit den Augen nicht wahrnahmen, und welches sich vorzüglich durch seine Beweglichkeit vor den trägen und gro- ben Massen auszeichnete. Diese Beobachtung brachte sie nach und nach auf die Meinung, dass Bewegung und Leben von einem solchen feinen und unsicht- baren Wesen abhänge. Durch die Eigenschaften der feinen Stoffe wurden sie auf die Idee von Geistern geleitet, und sie characterisirten dieselben durch die vorzüglichsten Merkmale der Luft, durch Unsichtbarkeit und Beweglichkeit. Man legte sogar dem Geiste überhaupt in der hebräi- schen und fast in allen alten Sprachen die Namen Luft oder Wind (Spiritus) bei.“ (l. c. p. 11, 12). „Mit eben dem Rechte, mit welchem wir den Thieren (und also auch den Menschen) eine Seele beilegen, um ihre thierischen Wir- kungen daraus zu erklären, können wir auch für die Schwere und Cohärenz eigene Geister annehmen, die erst der Materie die Eigenschaft, als schwere und zusam- menhaftende Materie zu wirken, mittheilen.“ (l. c. p. 14).

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/211>, abgerufen am 28.11.2024.