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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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II. Organische und anorganische Formen.
fachere und zusammengesetztere Krystall-Aggregate (z. B. in vielen
sogenannten Krystalldrusen) vor, welche ganz offenbar nicht gesetzlos
zusammengeworfene Krystall-Haufen sind, sondern durch bestimmte
Anziehungs- und Abstossungs-Verhältnisse geregelte, gesetzmässige Bil-
dungen, in denen nothwendig die complicirte Form des Ganzen aus
der complicirten Zusammenordnung der einzelnen Theile resultirt.
Wenn diese merkwürdigen Bildungen erst näher untersucht sein wer-
den, ist zu hoffen, dass auch bei diesen "Krystall-Stöcken", wie man
sie nennen könnte, bestimmte Gesetze gefunden werden, welche den
Zusammentritt der Individuen verschiedener Ordnung zum höheren
Ganzen bestimmen. Die Feststellung dieser Gesetze würde für die
Anorgane dieselbe Aufgabe sein, wie sie die Tectologie für die Or-
ganismen verfolgt.

II) 2. Grundformen der organischen und anorganischen Gestalten.

Als einen weiteren wesentlichen Unterschied der organischen und
anorganischen Individuen haben wir oben (p. 25 ff.) die Verschieden-
heit der äusseren Gestalt selbst bezeichnet. Bei den ausgebildeten
anorganischen Individuen, den Krystallen, "ist die Form einer voll-
kommen exacten mathematischen Betrachtung ohne Weiteres zugänglich,
und mit der stereometrischen Ausmessung derselben ist die Aufgabe
ihrer morphologischen Erkenntniss wesentlich gelöst. Die anorganischen
Individuen sind fast immer von ebenen Flächen, geraden Linien und
bestimmten messbaren Winkeln begrenzt. Die organischen Individuen
hingegen, deren Form einer stereometrischen Behandlung zugänglich
ist, sind seltene Ausnahmen. Fast immer ist ihr Körper von gekrümm-
ten Flächen, gebogenen Linien und unmessbaren sphärischen Winkeln
begrenzt."

Auch dieser Unterschied, den wir absichtlich oben so schroff hin-
gestellt haben, wie dies gewöhnlich geschieht, ist keineswegs so ab-
solut und durchgreifend, wie man glaubt. Vielmehr kommen auch in
dieser Beziehung, wie überall, Zwischenformen und Uebergangs-
bildungen vor. Zunächst ist hier hervorzuheben, dass auch vollkommen
reine anorganische Krystalle sich finden, welche nicht, gleich den
meisten anderen, von ebenen Flächen begrenzt sind, die in gradlinigen
Kanten zusammenstossen. Am wichtigsten sind in dieser Beziehung
die von gekrümmten Flächen eingeschlossenen Diamantkrystalle, welche
um so bemerkenswerther sind, als der Kohlenstoff, der hier in reinster
Form sphärische Krystallflächen hervorbringt, zugleich dasjenige che-
mische Element ist, welches an der Spitze der Organogene steht, und
die wichtigste Rolle in der Bildung der organischen Verbindungen
spielt. Dasselbe gilt auch vom Wasser, welches nicht minder unent-
behrlich für das Zustandekommen und den Bestand der organischen

II. Organische und anorganische Formen.
fachere und zusammengesetztere Krystall-Aggregate (z. B. in vielen
sogenannten Krystalldrusen) vor, welche ganz offenbar nicht gesetzlos
zusammengeworfene Krystall-Haufen sind, sondern durch bestimmte
Anziehungs- und Abstossungs-Verhältnisse geregelte, gesetzmässige Bil-
dungen, in denen nothwendig die complicirte Form des Ganzen aus
der complicirten Zusammenordnung der einzelnen Theile resultirt.
Wenn diese merkwürdigen Bildungen erst näher untersucht sein wer-
den, ist zu hoffen, dass auch bei diesen „Krystall-Stöcken“, wie man
sie nennen könnte, bestimmte Gesetze gefunden werden, welche den
Zusammentritt der Individuen verschiedener Ordnung zum höheren
Ganzen bestimmen. Die Feststellung dieser Gesetze würde für die
Anorgane dieselbe Aufgabe sein, wie sie die Tectologie für die Or-
ganismen verfolgt.

II) 2. Grundformen der organischen und anorganischen Gestalten.

Als einen weiteren wesentlichen Unterschied der organischen und
anorganischen Individuen haben wir oben (p. 25 ff.) die Verschieden-
heit der äusseren Gestalt selbst bezeichnet. Bei den ausgebildeten
anorganischen Individuen, den Krystallen, „ist die Form einer voll-
kommen exacten mathematischen Betrachtung ohne Weiteres zugänglich,
und mit der stereometrischen Ausmessung derselben ist die Aufgabe
ihrer morphologischen Erkenntniss wesentlich gelöst. Die anorganischen
Individuen sind fast immer von ebenen Flächen, geraden Linien und
bestimmten messbaren Winkeln begrenzt. Die organischen Individuen
hingegen, deren Form einer stereometrischen Behandlung zugänglich
ist, sind seltene Ausnahmen. Fast immer ist ihr Körper von gekrümm-
ten Flächen, gebogenen Linien und unmessbaren sphärischen Winkeln
begrenzt.“

Auch dieser Unterschied, den wir absichtlich oben so schroff hin-
gestellt haben, wie dies gewöhnlich geschieht, ist keineswegs so ab-
solut und durchgreifend, wie man glaubt. Vielmehr kommen auch in
dieser Beziehung, wie überall, Zwischenformen und Uebergangs-
bildungen vor. Zunächst ist hier hervorzuheben, dass auch vollkommen
reine anorganische Krystalle sich finden, welche nicht, gleich den
meisten anderen, von ebenen Flächen begrenzt sind, die in gradlinigen
Kanten zusammenstossen. Am wichtigsten sind in dieser Beziehung
die von gekrümmten Flächen eingeschlossenen Diamantkrystalle, welche
um so bemerkenswerther sind, als der Kohlenstoff, der hier in reinster
Form sphärische Krystallflächen hervorbringt, zugleich dasjenige che-
mische Element ist, welches an der Spitze der Organogene steht, und
die wichtigste Rolle in der Bildung der organischen Verbindungen
spielt. Dasselbe gilt auch vom Wasser, welches nicht minder unent-
behrlich für das Zustandekommen und den Bestand der organischen

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[137/0176] II. Organische und anorganische Formen. fachere und zusammengesetztere Krystall-Aggregate (z. B. in vielen sogenannten Krystalldrusen) vor, welche ganz offenbar nicht gesetzlos zusammengeworfene Krystall-Haufen sind, sondern durch bestimmte Anziehungs- und Abstossungs-Verhältnisse geregelte, gesetzmässige Bil- dungen, in denen nothwendig die complicirte Form des Ganzen aus der complicirten Zusammenordnung der einzelnen Theile resultirt. Wenn diese merkwürdigen Bildungen erst näher untersucht sein wer- den, ist zu hoffen, dass auch bei diesen „Krystall-Stöcken“, wie man sie nennen könnte, bestimmte Gesetze gefunden werden, welche den Zusammentritt der Individuen verschiedener Ordnung zum höheren Ganzen bestimmen. Die Feststellung dieser Gesetze würde für die Anorgane dieselbe Aufgabe sein, wie sie die Tectologie für die Or- ganismen verfolgt. II) 2. Grundformen der organischen und anorganischen Gestalten. Als einen weiteren wesentlichen Unterschied der organischen und anorganischen Individuen haben wir oben (p. 25 ff.) die Verschieden- heit der äusseren Gestalt selbst bezeichnet. Bei den ausgebildeten anorganischen Individuen, den Krystallen, „ist die Form einer voll- kommen exacten mathematischen Betrachtung ohne Weiteres zugänglich, und mit der stereometrischen Ausmessung derselben ist die Aufgabe ihrer morphologischen Erkenntniss wesentlich gelöst. Die anorganischen Individuen sind fast immer von ebenen Flächen, geraden Linien und bestimmten messbaren Winkeln begrenzt. Die organischen Individuen hingegen, deren Form einer stereometrischen Behandlung zugänglich ist, sind seltene Ausnahmen. Fast immer ist ihr Körper von gekrümm- ten Flächen, gebogenen Linien und unmessbaren sphärischen Winkeln begrenzt.“ Auch dieser Unterschied, den wir absichtlich oben so schroff hin- gestellt haben, wie dies gewöhnlich geschieht, ist keineswegs so ab- solut und durchgreifend, wie man glaubt. Vielmehr kommen auch in dieser Beziehung, wie überall, Zwischenformen und Uebergangs- bildungen vor. Zunächst ist hier hervorzuheben, dass auch vollkommen reine anorganische Krystalle sich finden, welche nicht, gleich den meisten anderen, von ebenen Flächen begrenzt sind, die in gradlinigen Kanten zusammenstossen. Am wichtigsten sind in dieser Beziehung die von gekrümmten Flächen eingeschlossenen Diamantkrystalle, welche um so bemerkenswerther sind, als der Kohlenstoff, der hier in reinster Form sphärische Krystallflächen hervorbringt, zugleich dasjenige che- mische Element ist, welches an der Spitze der Organogene steht, und die wichtigste Rolle in der Bildung der organischen Verbindungen spielt. Dasselbe gilt auch vom Wasser, welches nicht minder unent- behrlich für das Zustandekommen und den Bestand der organischen

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/176>, abgerufen am 26.11.2024.