allein die Masse der gedankenlosen Naturbeobachter, sondern auch die besten und denkendsten Köpfe der Wissenschaft beherrschen konnte. Seltsames Schauspiel! Einem Götzen gleich steht allmächtig und all- beherrschend dieses paradoxe Dogma da, welches Nichts erklärt und Nichts nützt, und welches zu der Gesammtheit aller allgemeinen bio- logischen Erscheinungsreihen sich im entschiedensten Widerspruche befindet. Während alle einzelnen grösseren und kleineren Thatsachen- Reihen, welche auf dem Gebiete der Biologie, und namentlich der Mor- phologie, seit mehr als hundert Jahren sich so massenhaft angehäuft haben, übereinstimmend und gleichsam spontan zu dem grossen Re- sultate hinleiten, dass die unendliche Mannichfaltigkeit der Thier- und Pflanzen-Formen die reich differenzirte Nachkommenschaft einiger we- niger einfacher gemeinsamer Stammformen sei, während alle anatomi- schen und embryologischen, alle paläontologischen und geologischen Data ebenso einfach als nothwendig auf dieses gewaltige Resultat hin- arbeiten, bleibt die entgegengesetzte, rein dogmatische und durch keine Thatsachen gestützte Ansicht über ein Jahrhundert lang allgemein herr- schend! Credunt, quia absurdum est!
In Wahrheit ist diese Betrachtung für die Geschichte der Wissen- schaft von hohem Interesse, und keine andere kann uns in so hohem Grade vor den Gefahren und Nachtheilen einer dogmatischen und le- diglich durch die Autorität gestützten Anschauungsweise warnen, und so nachdrücklich auf die Nothwendigkeit einer strengen kritischen Untersuchungsmethode hinweisen. Wären die Morphologen nur mit etwas mehr Kritik verfahren und hätten sie die Autorität des Species- Dogma nur etwas weniger gefürchtet, so hätte dasselbe schon längst in sich zusammenstürzen müssen. Und wieviel weiter wären wir da- durch gekommen! So aber bewährt sich auch hier wieder der alte Spruch von Goethe: "Die Autorität verewigt im Einzelnen, was ein- zeln vorüber gehen sollte, lehnt ab und lässt vorüber gehen, was fest- gehalten werden sollte, und ist hauptsächlich Ursache, dass die Mensch- heit nicht vom Flecke kommt."
Wenn wir näher nach den Ursachen fragen, welche dem Dogmatismus auf dem biologischen Gebiete eine so ausgedehnte Herrschaft und eine so feste Geltung verschafft haben, so finden wir sie auch hier wieder vorzugs- weise in dem Mangel an allgemeiner philosophischer Vorbildung bei den meisten biologischen Naturforschern, und in der merkwürdigen Un- klarheit, in welcher sich dieselben nicht allein über die eigentlichen Ziele ihrer Wissenschaft, sondern auch über die allein richtigen Wege, auf denen sie diese Ziele erreichen können, befinden. Der hochmüthige und thörichte Dünkel, mit welchem die meisten Biologen auf jede "Philosophie" herab- sehen, bestraft sich selbst zunächst durch den grossen Schaden, den ihnen diese Verschmähung ihres besten und wichtigsten Untersuchungs-Instru- ments unmittelbar bringt. Lieber wollen sie ihren schwierigen und an ver-
IV. Dogmatik und Kritik.
allein die Masse der gedankenlosen Naturbeobachter, sondern auch die besten und denkendsten Köpfe der Wissenschaft beherrschen konnte. Seltsames Schauspiel! Einem Götzen gleich steht allmächtig und all- beherrschend dieses paradoxe Dogma da, welches Nichts erklärt und Nichts nützt, und welches zu der Gesammtheit aller allgemeinen bio- logischen Erscheinungsreihen sich im entschiedensten Widerspruche befindet. Während alle einzelnen grösseren und kleineren Thatsachen- Reihen, welche auf dem Gebiete der Biologie, und namentlich der Mor- phologie, seit mehr als hundert Jahren sich so massenhaft angehäuft haben, übereinstimmend und gleichsam spontan zu dem grossen Re- sultate hinleiten, dass die unendliche Mannichfaltigkeit der Thier- und Pflanzen-Formen die reich differenzirte Nachkommenschaft einiger we- niger einfacher gemeinsamer Stammformen sei, während alle anatomi- schen und embryologischen, alle paläontologischen und geologischen Data ebenso einfach als nothwendig auf dieses gewaltige Resultat hin- arbeiten, bleibt die entgegengesetzte, rein dogmatische und durch keine Thatsachen gestützte Ansicht über ein Jahrhundert lang allgemein herr- schend! Credunt, quia absurdum est!
In Wahrheit ist diese Betrachtung für die Geschichte der Wissen- schaft von hohem Interesse, und keine andere kann uns in so hohem Grade vor den Gefahren und Nachtheilen einer dogmatischen und le- diglich durch die Autorität gestützten Anschauungsweise warnen, und so nachdrücklich auf die Nothwendigkeit einer strengen kritischen Untersuchungsmethode hinweisen. Wären die Morphologen nur mit etwas mehr Kritik verfahren und hätten sie die Autorität des Species- Dogma nur etwas weniger gefürchtet, so hätte dasselbe schon längst in sich zusammenstürzen müssen. Und wieviel weiter wären wir da- durch gekommen! So aber bewährt sich auch hier wieder der alte Spruch von Goethe: „Die Autorität verewigt im Einzelnen, was ein- zeln vorüber gehen sollte, lehnt ab und lässt vorüber gehen, was fest- gehalten werden sollte, und ist hauptsächlich Ursache, dass die Mensch- heit nicht vom Flecke kommt.“
Wenn wir näher nach den Ursachen fragen, welche dem Dogmatismus auf dem biologischen Gebiete eine so ausgedehnte Herrschaft und eine so feste Geltung verschafft haben, so finden wir sie auch hier wieder vorzugs- weise in dem Mangel an allgemeiner philosophischer Vorbildung bei den meisten biologischen Naturforschern, und in der merkwürdigen Un- klarheit, in welcher sich dieselben nicht allein über die eigentlichen Ziele ihrer Wissenschaft, sondern auch über die allein richtigen Wege, auf denen sie diese Ziele erreichen können, befinden. Der hochmüthige und thörichte Dünkel, mit welchem die meisten Biologen auf jede „Philosophie“ herab- sehen, bestraft sich selbst zunächst durch den grossen Schaden, den ihnen diese Verschmähung ihres besten und wichtigsten Untersuchungs-Instru- ments unmittelbar bringt. Lieber wollen sie ihren schwierigen und an ver-
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IV. Dogmatik und Kritik.
allein die Masse der gedankenlosen Naturbeobachter, sondern auch die
besten und denkendsten Köpfe der Wissenschaft beherrschen konnte.
Seltsames Schauspiel! Einem Götzen gleich steht allmächtig und all-
beherrschend dieses paradoxe Dogma da, welches Nichts erklärt und
Nichts nützt, und welches zu der Gesammtheit aller allgemeinen bio-
logischen Erscheinungsreihen sich im entschiedensten Widerspruche
befindet. Während alle einzelnen grösseren und kleineren Thatsachen-
Reihen, welche auf dem Gebiete der Biologie, und namentlich der Mor-
phologie, seit mehr als hundert Jahren sich so massenhaft angehäuft
haben, übereinstimmend und gleichsam spontan zu dem grossen Re-
sultate hinleiten, dass die unendliche Mannichfaltigkeit der Thier- und
Pflanzen-Formen die reich differenzirte Nachkommenschaft einiger we-
niger einfacher gemeinsamer Stammformen sei, während alle anatomi-
schen und embryologischen, alle paläontologischen und geologischen
Data ebenso einfach als nothwendig auf dieses gewaltige Resultat hin-
arbeiten, bleibt die entgegengesetzte, rein dogmatische und durch keine
Thatsachen gestützte Ansicht über ein Jahrhundert lang allgemein herr-
schend! Credunt, quia absurdum est!
In Wahrheit ist diese Betrachtung für die Geschichte der Wissen-
schaft von hohem Interesse, und keine andere kann uns in so hohem
Grade vor den Gefahren und Nachtheilen einer dogmatischen und le-
diglich durch die Autorität gestützten Anschauungsweise warnen, und
so nachdrücklich auf die Nothwendigkeit einer strengen kritischen
Untersuchungsmethode hinweisen. Wären die Morphologen nur mit
etwas mehr Kritik verfahren und hätten sie die Autorität des Species-
Dogma nur etwas weniger gefürchtet, so hätte dasselbe schon längst
in sich zusammenstürzen müssen. Und wieviel weiter wären wir da-
durch gekommen! So aber bewährt sich auch hier wieder der alte
Spruch von Goethe: „Die Autorität verewigt im Einzelnen, was ein-
zeln vorüber gehen sollte, lehnt ab und lässt vorüber gehen, was fest-
gehalten werden sollte, und ist hauptsächlich Ursache, dass die Mensch-
heit nicht vom Flecke kommt.“
Wenn wir näher nach den Ursachen fragen, welche dem Dogmatismus
auf dem biologischen Gebiete eine so ausgedehnte Herrschaft und eine so
feste Geltung verschafft haben, so finden wir sie auch hier wieder vorzugs-
weise in dem Mangel an allgemeiner philosophischer Vorbildung
bei den meisten biologischen Naturforschern, und in der merkwürdigen Un-
klarheit, in welcher sich dieselben nicht allein über die eigentlichen Ziele
ihrer Wissenschaft, sondern auch über die allein richtigen Wege, auf denen
sie diese Ziele erreichen können, befinden. Der hochmüthige und thörichte
Dünkel, mit welchem die meisten Biologen auf jede „Philosophie“ herab-
sehen, bestraft sich selbst zunächst durch den grossen Schaden, den ihnen
diese Verschmähung ihres besten und wichtigsten Untersuchungs-Instru-
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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/130>, abgerufen am 26.06.2024.
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