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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Methodik der Morphologie der Organismen.
und auf breite inductive Basis wohl begründeter Theorieen, treffen wir
vielmehr fast allenthalben höchst vage Hypothesen von durchaus dog-
matischem Character an; ja bei aufrichtiger Prüfung des gegenwärtigen
Zustandes unserer Wissenschaft müssen wir zu unserm Leidwesen ge-
stehen, dass überall in derselben die dogmatische Richtung noch weit
über die kritische überwiegt.

Leider ist dieser höchst schädliche Mangel an Kritik so allge-
mein und hat insbesondere in den letzten Decennien, gleichzeitig
und in gleichem Schritt mit dem extensiven Wachsthum und der da-
mit verbundenen Verflachung der organischen Morphologie, so sehr zu-
genommen, dass wir kein einzelnes Beispiel anzuführen und den un-
parteiischen Leser bloss zu ersuchen brauchen, einen Blick in eine belie-
bige Zeitschrift für "wissenschaftliche" Zoologie oder Botanik zu werfen, um
sich von dem dogmatischen und kritiklosen Character der meisten
Arbeiten zu überzeugen. Nirgends aber tritt dieser Character so nackt
und abschreckend zu Tage, als in der Mehrzahl derjenigen Schriften,
welche die Species-Frage behandeln, und insbesondere in denjenigen,
welche die Descendenz-Theorie zu bekämpfen suchen. Dass gerade in
dieser hochwichtigen allgemeinen Frage die gänzlich dogmatische
und kritiklose Richtung der organischen Morphologie in ihrer ganzen
Blösse und Schwäche auftritt, kann freilich Niemanden überraschen,
der durch eigene systematische Studien sich einen Begriff von dem
ausserordentlichen Gewicht dieser allgemeinen Frage gebildet und da-
bei die Ueberzeugung gewonnen hat, dass hier ein einziges colossales
Dogma die gesammte Wissenschaft nach Art des drückendsten Ab-
solutismus beherrscht. Denn nur als ein colossales Dogma,
welches ebenso durch hohes Alter geheiligt, und durch blin-
den Autoritätenglauben mächtig, wie in seinen Praemissen
haltlos und in seinen Consequenzen sinnlos ist, müssen wir
hier offen die gegenwärtig immer noch herrschende An-
sicht bezeichnen, dass die Species oder Art constant und
eine für sich selbstständig erschaffene Form der Organi-
sation ist
.

"Immerfort wiederholte Phrasen verknöchern sich zuletzt zur Ueber-
zeugung und verstumpfen völlig die Organe des Anschauens." Dieses
goldene Wort Goethe's findet nirgends in höherem Grade Geltung,
als in dieser Frage. In der That, wenn man mit kritischer Vorurtheils-
losigkeit unbefangen alle Voraussetzungen erwägt, auf welche die An-
hänger des Species-Dogma sich stützen, und die Folgerungen zieht,
welche nothwendig aus demselben gezogen werden müssen, so begreift
man nur durch Annahme "einer völligen Verstumpfung der Organe
des Anschauens," wie dieses in sich hohle und widerspruchsvolle Dogma
130 Jahre hindurch fast unangefochten bestehen, und wie dasselbe nicht

Methodik der Morphologie der Organismen.
und auf breite inductive Basis wohl begründeter Theorieen, treffen wir
vielmehr fast allenthalben höchst vage Hypothesen von durchaus dog-
matischem Character an; ja bei aufrichtiger Prüfung des gegenwärtigen
Zustandes unserer Wissenschaft müssen wir zu unserm Leidwesen ge-
stehen, dass überall in derselben die dogmatische Richtung noch weit
über die kritische überwiegt.

Leider ist dieser höchst schädliche Mangel an Kritik so allge-
mein und hat insbesondere in den letzten Decennien, gleichzeitig
und in gleichem Schritt mit dem extensiven Wachsthum und der da-
mit verbundenen Verflachung der organischen Morphologie, so sehr zu-
genommen, dass wir kein einzelnes Beispiel anzuführen und den un-
parteiischen Leser bloss zu ersuchen brauchen, einen Blick in eine belie-
bige Zeitschrift für „wissenschaftliche“ Zoologie oder Botanik zu werfen, um
sich von dem dogmatischen und kritiklosen Character der meisten
Arbeiten zu überzeugen. Nirgends aber tritt dieser Character so nackt
und abschreckend zu Tage, als in der Mehrzahl derjenigen Schriften,
welche die Species-Frage behandeln, und insbesondere in denjenigen,
welche die Descendenz-Theorie zu bekämpfen suchen. Dass gerade in
dieser hochwichtigen allgemeinen Frage die gänzlich dogmatische
und kritiklose Richtung der organischen Morphologie in ihrer ganzen
Blösse und Schwäche auftritt, kann freilich Niemanden überraschen,
der durch eigene systematische Studien sich einen Begriff von dem
ausserordentlichen Gewicht dieser allgemeinen Frage gebildet und da-
bei die Ueberzeugung gewonnen hat, dass hier ein einziges colossales
Dogma die gesammte Wissenschaft nach Art des drückendsten Ab-
solutismus beherrscht. Denn nur als ein colossales Dogma,
welches ebenso durch hohes Alter geheiligt, und durch blin-
den Autoritätenglauben mächtig, wie in seinen Praemissen
haltlos und in seinen Consequenzen sinnlos ist, müssen wir
hier offen die gegenwärtig immer noch herrschende An-
sicht bezeichnen, dass die Species oder Art constant und
eine für sich selbstständig erschaffene Form der Organi-
sation ist
.

„Immerfort wiederholte Phrasen verknöchern sich zuletzt zur Ueber-
zeugung und verstumpfen völlig die Organe des Anschauens.“ Dieses
goldene Wort Goethe’s findet nirgends in höherem Grade Geltung,
als in dieser Frage. In der That, wenn man mit kritischer Vorurtheils-
losigkeit unbefangen alle Voraussetzungen erwägt, auf welche die An-
hänger des Species-Dogma sich stützen, und die Folgerungen zieht,
welche nothwendig aus demselben gezogen werden müssen, so begreift
man nur durch Annahme „einer völligen Verstumpfung der Organe
des Anschauens,“ wie dieses in sich hohle und widerspruchsvolle Dogma
130 Jahre hindurch fast unangefochten bestehen, und wie dasselbe nicht

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[90/0129] Methodik der Morphologie der Organismen. und auf breite inductive Basis wohl begründeter Theorieen, treffen wir vielmehr fast allenthalben höchst vage Hypothesen von durchaus dog- matischem Character an; ja bei aufrichtiger Prüfung des gegenwärtigen Zustandes unserer Wissenschaft müssen wir zu unserm Leidwesen ge- stehen, dass überall in derselben die dogmatische Richtung noch weit über die kritische überwiegt. Leider ist dieser höchst schädliche Mangel an Kritik so allge- mein und hat insbesondere in den letzten Decennien, gleichzeitig und in gleichem Schritt mit dem extensiven Wachsthum und der da- mit verbundenen Verflachung der organischen Morphologie, so sehr zu- genommen, dass wir kein einzelnes Beispiel anzuführen und den un- parteiischen Leser bloss zu ersuchen brauchen, einen Blick in eine belie- bige Zeitschrift für „wissenschaftliche“ Zoologie oder Botanik zu werfen, um sich von dem dogmatischen und kritiklosen Character der meisten Arbeiten zu überzeugen. Nirgends aber tritt dieser Character so nackt und abschreckend zu Tage, als in der Mehrzahl derjenigen Schriften, welche die Species-Frage behandeln, und insbesondere in denjenigen, welche die Descendenz-Theorie zu bekämpfen suchen. Dass gerade in dieser hochwichtigen allgemeinen Frage die gänzlich dogmatische und kritiklose Richtung der organischen Morphologie in ihrer ganzen Blösse und Schwäche auftritt, kann freilich Niemanden überraschen, der durch eigene systematische Studien sich einen Begriff von dem ausserordentlichen Gewicht dieser allgemeinen Frage gebildet und da- bei die Ueberzeugung gewonnen hat, dass hier ein einziges colossales Dogma die gesammte Wissenschaft nach Art des drückendsten Ab- solutismus beherrscht. Denn nur als ein colossales Dogma, welches ebenso durch hohes Alter geheiligt, und durch blin- den Autoritätenglauben mächtig, wie in seinen Praemissen haltlos und in seinen Consequenzen sinnlos ist, müssen wir hier offen die gegenwärtig immer noch herrschende An- sicht bezeichnen, dass die Species oder Art constant und eine für sich selbstständig erschaffene Form der Organi- sation ist. „Immerfort wiederholte Phrasen verknöchern sich zuletzt zur Ueber- zeugung und verstumpfen völlig die Organe des Anschauens.“ Dieses goldene Wort Goethe’s findet nirgends in höherem Grade Geltung, als in dieser Frage. In der That, wenn man mit kritischer Vorurtheils- losigkeit unbefangen alle Voraussetzungen erwägt, auf welche die An- hänger des Species-Dogma sich stützen, und die Folgerungen zieht, welche nothwendig aus demselben gezogen werden müssen, so begreift man nur durch Annahme „einer völligen Verstumpfung der Organe des Anschauens,“ wie dieses in sich hohle und widerspruchsvolle Dogma 130 Jahre hindurch fast unangefochten bestehen, und wie dasselbe nicht

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/129>, abgerufen am 24.11.2024.