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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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III. Induction und Deduction.

Obwohl Induction und Deduction zweifelsohne die wichtigsten psychi-
schen Functionen des erkennenden Menschen, und vor Allem des am tief-
sten und gründlichsten erkennenden Menschen, d. h. des Naturforschers
sind, so mangelt es dennoch gänzlich an einer gründlichen psychologischen
Erläuterung derselben. Freilich geht es hier diesen beiden Methoden nicht
viel schlechter, als vielen anderen wichtigen Denkprocessen. Auf eine
wahrhaft natürliche, d. h. genetische Erklärung derselben werden wir erst
dann hoffen können, wenn ein naturwissenschaftlich und namentlich biologisch
gebildeter Philosoph, d. h. ein an klares strenges Denken gewöhnter Naturfor-
scher (eine seltene Erscheinung!) endlich einmal eine vergleichende Psycho-
logie schaffen wird, d. h. eine Seelenlehre, welche die gesammten psychi-
schen Functionen durch die ganze Thierreihe und namentlich durch die
Stufenleiter des Wirbelthier-Stammes hindurch verfolgt und die allmählige
Differenzirung derselben bis zu ihrer höchsten Blüthe im Menschen nach-
weist. Da diejenigen Functionen des Centralnervensystems, welche man
unter dem Namen des "Seelenlebens" zusammenfasst, durchaus nach den-
selben Gesetzen entstehen und sich entwickeln, durchaus in gleicher Weise
an die sich differenzirenden Organe gebunden sind, wie die übrigen soma-
tischen Functionen, so können wir zu einer richtigen Erkenntniss derselben
(die einen Theil der Physiologie bildet) auch nur auf dem gleichen Wege wie
bei den letzteren gelangen, d. h. auf dem vergleichenden und dem
genetischen Wege. Nur allein die Vergleichung der verschiedenen Ent-
wickelungsstufen des Seelenlebens bei unseren Verwandten, den übrigen
Wirbelthieren, das Studium der allmähligen Entwickelung desselben von
frühester Jugend an bei allen Vertebraten, und die Herstellung der voll-
ständigen Stufenleiter von allmähligen Uebergangsformen, welche das Seelen-
leben von den niederen zu den höheren Wirbelthieren, und insbesondere
von den niedersten Säugethieren an bis zu den höchsten, von den Beutel-
thieren durch die Reihe der Halbaffen und Affen hindurch bis zum Men-
schen darstellt -- nur allein diese auf dem vergleichenden und genetischen
Wege erlangten psychologischen Erkenntnisse werden uns das volle Ver-
ständniss unseres eigenen Seelenlebens eröffnen und uns die bewunderns-
würdig weit gehende Differenzirung der psychischen Functionen erkennen
lassen, welche uns vor allen andern Wirbelthieren auszeichnet. 1)

1) Wenn wir hier die Differenzirung und Entwickelung der menschlichen
Psyche im Ganzen genommen über diejenige aller anderen Wirbelthiere stel-
len, so wird vielleicht die vergleichende und genetische Psychologie diese An-
sicht künftig insofern einschränken, als sie darthun, wird dass einzelne See-
lenerscheinungen, welche den drei Functionsgruppen des Erkennens (Denkens),
Wollens und Empfindens untergeordnet sind, bei einzelnen Wirbelthieren hö-
her als beim Menschen entwickelt sind. Gegenwärtig lässt sich über diesen
äusserst wichtigen und interessanten Gegenstand fast noch Nichts aussagen, da
erst sehr wenige ernste Versuche zu einer wissenschaftlichen, d. h. ver-
gleichenden und genetischen Psychologie der Wirbelthiere
ge-
macht sind. Der gänzlich nichtssagende Ausdruck "Instinkt," mit welchem man
das gesammte Seelenleben der Thiere, gegenüber dem des Menschen zu bezeich-
III. Induction und Deduction.

Obwohl Induction und Deduction zweifelsohne die wichtigsten psychi-
schen Functionen des erkennenden Menschen, und vor Allem des am tief-
sten und gründlichsten erkennenden Menschen, d. h. des Naturforschers
sind, so mangelt es dennoch gänzlich an einer gründlichen psychologischen
Erläuterung derselben. Freilich geht es hier diesen beiden Methoden nicht
viel schlechter, als vielen anderen wichtigen Denkprocessen. Auf eine
wahrhaft natürliche, d. h. genetische Erklärung derselben werden wir erst
dann hoffen können, wenn ein naturwissenschaftlich und namentlich biologisch
gebildeter Philosoph, d. h. ein an klares strenges Denken gewöhnter Naturfor-
scher (eine seltene Erscheinung!) endlich einmal eine vergleichende Psycho-
logie schaffen wird, d. h. eine Seelenlehre, welche die gesammten psychi-
schen Functionen durch die ganze Thierreihe und namentlich durch die
Stufenleiter des Wirbelthier-Stammes hindurch verfolgt und die allmählige
Differenzirung derselben bis zu ihrer höchsten Blüthe im Menschen nach-
weist. Da diejenigen Functionen des Centralnervensystems, welche man
unter dem Namen des „Seelenlebens“ zusammenfasst, durchaus nach den-
selben Gesetzen entstehen und sich entwickeln, durchaus in gleicher Weise
an die sich differenzirenden Organe gebunden sind, wie die übrigen soma-
tischen Functionen, so können wir zu einer richtigen Erkenntniss derselben
(die einen Theil der Physiologie bildet) auch nur auf dem gleichen Wege wie
bei den letzteren gelangen, d. h. auf dem vergleichenden und dem
genetischen Wege. Nur allein die Vergleichung der verschiedenen Ent-
wickelungsstufen des Seelenlebens bei unseren Verwandten, den übrigen
Wirbelthieren, das Studium der allmähligen Entwickelung desselben von
frühester Jugend an bei allen Vertebraten, und die Herstellung der voll-
ständigen Stufenleiter von allmähligen Uebergangsformen, welche das Seelen-
leben von den niederen zu den höheren Wirbelthieren, und insbesondere
von den niedersten Säugethieren an bis zu den höchsten, von den Beutel-
thieren durch die Reihe der Halbaffen und Affen hindurch bis zum Men-
schen darstellt — nur allein diese auf dem vergleichenden und genetischen
Wege erlangten psychologischen Erkenntnisse werden uns das volle Ver-
ständniss unseres eigenen Seelenlebens eröffnen und uns die bewunderns-
würdig weit gehende Differenzirung der psychischen Functionen erkennen
lassen, welche uns vor allen andern Wirbelthieren auszeichnet. 1)

1) Wenn wir hier die Differenzirung und Entwickelung der menschlichen
Psyche im Ganzen genommen über diejenige aller anderen Wirbelthiere stel-
len, so wird vielleicht die vergleichende und genetische Psychologie diese An-
sicht künftig insofern einschränken, als sie darthun, wird dass einzelne See-
lenerscheinungen, welche den drei Functionsgruppen des Erkennens (Denkens),
Wollens und Empfindens untergeordnet sind, bei einzelnen Wirbelthieren hö-
her als beim Menschen entwickelt sind. Gegenwärtig lässt sich über diesen
äusserst wichtigen und interessanten Gegenstand fast noch Nichts aussagen, da
erst sehr wenige ernste Versuche zu einer wissenschaftlichen, d. h. ver-
gleichenden und genetischen Psychologie der Wirbelthiere
ge-
macht sind. Der gänzlich nichtssagende Ausdruck „Instinkt,“ mit welchem man
das gesammte Seelenleben der Thiere, gegenüber dem des Menschen zu bezeich-
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[85/0124] III. Induction und Deduction. Obwohl Induction und Deduction zweifelsohne die wichtigsten psychi- schen Functionen des erkennenden Menschen, und vor Allem des am tief- sten und gründlichsten erkennenden Menschen, d. h. des Naturforschers sind, so mangelt es dennoch gänzlich an einer gründlichen psychologischen Erläuterung derselben. Freilich geht es hier diesen beiden Methoden nicht viel schlechter, als vielen anderen wichtigen Denkprocessen. Auf eine wahrhaft natürliche, d. h. genetische Erklärung derselben werden wir erst dann hoffen können, wenn ein naturwissenschaftlich und namentlich biologisch gebildeter Philosoph, d. h. ein an klares strenges Denken gewöhnter Naturfor- scher (eine seltene Erscheinung!) endlich einmal eine vergleichende Psycho- logie schaffen wird, d. h. eine Seelenlehre, welche die gesammten psychi- schen Functionen durch die ganze Thierreihe und namentlich durch die Stufenleiter des Wirbelthier-Stammes hindurch verfolgt und die allmählige Differenzirung derselben bis zu ihrer höchsten Blüthe im Menschen nach- weist. Da diejenigen Functionen des Centralnervensystems, welche man unter dem Namen des „Seelenlebens“ zusammenfasst, durchaus nach den- selben Gesetzen entstehen und sich entwickeln, durchaus in gleicher Weise an die sich differenzirenden Organe gebunden sind, wie die übrigen soma- tischen Functionen, so können wir zu einer richtigen Erkenntniss derselben (die einen Theil der Physiologie bildet) auch nur auf dem gleichen Wege wie bei den letzteren gelangen, d. h. auf dem vergleichenden und dem genetischen Wege. Nur allein die Vergleichung der verschiedenen Ent- wickelungsstufen des Seelenlebens bei unseren Verwandten, den übrigen Wirbelthieren, das Studium der allmähligen Entwickelung desselben von frühester Jugend an bei allen Vertebraten, und die Herstellung der voll- ständigen Stufenleiter von allmähligen Uebergangsformen, welche das Seelen- leben von den niederen zu den höheren Wirbelthieren, und insbesondere von den niedersten Säugethieren an bis zu den höchsten, von den Beutel- thieren durch die Reihe der Halbaffen und Affen hindurch bis zum Men- schen darstellt — nur allein diese auf dem vergleichenden und genetischen Wege erlangten psychologischen Erkenntnisse werden uns das volle Ver- ständniss unseres eigenen Seelenlebens eröffnen und uns die bewunderns- würdig weit gehende Differenzirung der psychischen Functionen erkennen lassen, welche uns vor allen andern Wirbelthieren auszeichnet. 1) 1) Wenn wir hier die Differenzirung und Entwickelung der menschlichen Psyche im Ganzen genommen über diejenige aller anderen Wirbelthiere stel- len, so wird vielleicht die vergleichende und genetische Psychologie diese An- sicht künftig insofern einschränken, als sie darthun, wird dass einzelne See- lenerscheinungen, welche den drei Functionsgruppen des Erkennens (Denkens), Wollens und Empfindens untergeordnet sind, bei einzelnen Wirbelthieren hö- her als beim Menschen entwickelt sind. Gegenwärtig lässt sich über diesen äusserst wichtigen und interessanten Gegenstand fast noch Nichts aussagen, da erst sehr wenige ernste Versuche zu einer wissenschaftlichen, d. h. ver- gleichenden und genetischen Psychologie der Wirbelthiere ge- macht sind. Der gänzlich nichtssagende Ausdruck „Instinkt,“ mit welchem man das gesammte Seelenleben der Thiere, gegenüber dem des Menschen zu bezeich-

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/124>, abgerufen am 24.11.2024.