Dogma seitdem fast allgemein geherrscht hat, und dass nur in der ersten naturphilosophischen Periode Lamarck und eine Anzahl anderer bedeu- tender Naturforscher die allgemeine Vorstellung von der Wesenheit und Beständigkeit der organischen "Art" zu verwerfen wagten, während in den beiden empirischen Perioden selbst die bedeutendsten Coryphaeen der Bio- logie sich dem harten Joche dieses wunderlichen Dogma beugten. Kein anderer Irrthum hat sich so allgemeine Geltung erworben, hat so sehr ge- schadet als dieser, und auf keinen ist in höherem Grade der bekannte Spruch von Goethe anwendbar: "Immerfort wiederholte Phrasen verknöchern sich zuletzt zur Ueberzeugung, und verstumpfen völlig die Organe des Anschauens."
Das Dogma von der Constanz der Species behauptet bekanntlich, dass alle organischen Formen sich in den Begriff der Species einpferchen lassen, d. h. in einen geschlossenen und selbstständigen Formenkreis, innerhalb dessen zwar der Species oder Art ein gewisser Grad der Variation zu- gestanden wird, dessen scharf bestimmte Grenzen aber die Art niemals überschreiten soll. Jede Species ist für sich, unabhängig von den anderen, erschaffen worden, keine ist durch Abänderung aus einer andern hervorge- gangen. Als das morphologische Kriterium der Art wird dabei ge- wöhnlich die Constanz aller "wesentlichen" Merkmale (und die Variabilität der "unwesentlichen" Charaktere) angeführt; als das physiologische Kriterium dagegen die Fähigkeit aller Varietäten einer Species, unter sich fruchtbare Bastarde zu erzeugen (und die Unfähigkeit jeder Species, mit irgend einer anderen Art vermischt fruchtbare Bastarde zu erzeugen). Obgleich nun diese Kriterien der Species, gleich allen anderen die man aufzustellen versucht hat, sich leicht und sicher als vollkommen unhalt- bare und willkührliche Voraussetzungen ausweisen lassen (wie im dritten Buche gezeigt werden soll), obgleich die Gesammtheit aller allgemeinen organischen Erscheinungs-Reihen auf das Entschiedenste dagegen spricht, obgleich nicht zwei Naturforscher in allen Fällen über die Begrenzung der Species einig sind, so hat dennoch dieses Dogma von der Species- Constanz die gesammte Biologie bis auf Darwin fast allgemein beherrscht. Erst Darwin's gewaltige Argumente vermochten eine Bresche in diese Zwingburg des Wunderglaubens zu schiessen, eine entscheidende Bresche, welche den unüberwindlichen Gedanken des combinirenden synthetischen Verstandes den Weg in dieses innerste Asyl vitalistischer Thorheiten öffnete.
Ohne uns hier weiter auf eine eingehende Widerlegung des Species- Dogma einlassen zu wollen, die späteren Capiteln vorbehalten bleibt, führen wir dasselbe hier nur an, um zu zeigen, welchen verderblichen Einfluss eine ausschliesslich analytische Methode in den Naturwissenschaften ausüben kann. Denn durch keinen Umstand ist das Species-Dogma so sehr ge- stützt, so allgemein in Geltung und Ansehen erhalten worden, als durch die allgemein vorherrschende analytische Beobachtung einzelner Individuen, und durch den Mangel an synthetischer und vergleichender Betrachtung der Individuen-Summe, welche die Species erst zusammensetzt. Indem man seit Linne fast allgemein und ausschliesslich bemüht war, möglichst viele neue Formen von Organismen als sogenannte Species einzeln aufzustellen,
II. Analyse und Synthese.
Dogma seitdem fast allgemein geherrscht hat, und dass nur in der ersten naturphilosophischen Periode Lamarck und eine Anzahl anderer bedeu- tender Naturforscher die allgemeine Vorstellung von der Wesenheit und Beständigkeit der organischen „Art“ zu verwerfen wagten, während in den beiden empirischen Perioden selbst die bedeutendsten Coryphaeen der Bio- logie sich dem harten Joche dieses wunderlichen Dogma beugten. Kein anderer Irrthum hat sich so allgemeine Geltung erworben, hat so sehr ge- schadet als dieser, und auf keinen ist in höherem Grade der bekannte Spruch von Goethe anwendbar: „Immerfort wiederholte Phrasen verknöchern sich zuletzt zur Ueberzeugung, und verstumpfen völlig die Organe des Anschauens.“
Das Dogma von der Constanz der Species behauptet bekanntlich, dass alle organischen Formen sich in den Begriff der Species einpferchen lassen, d. h. in einen geschlossenen und selbstständigen Formenkreis, innerhalb dessen zwar der Species oder Art ein gewisser Grad der Variation zu- gestanden wird, dessen scharf bestimmte Grenzen aber die Art niemals überschreiten soll. Jede Species ist für sich, unabhängig von den anderen, erschaffen worden, keine ist durch Abänderung aus einer andern hervorge- gangen. Als das morphologische Kriterium der Art wird dabei ge- wöhnlich die Constanz aller „wesentlichen“ Merkmale (und die Variabilität der „unwesentlichen“ Charaktere) angeführt; als das physiologische Kriterium dagegen die Fähigkeit aller Varietäten einer Species, unter sich fruchtbare Bastarde zu erzeugen (und die Unfähigkeit jeder Species, mit irgend einer anderen Art vermischt fruchtbare Bastarde zu erzeugen). Obgleich nun diese Kriterien der Species, gleich allen anderen die man aufzustellen versucht hat, sich leicht und sicher als vollkommen unhalt- bare und willkührliche Voraussetzungen ausweisen lassen (wie im dritten Buche gezeigt werden soll), obgleich die Gesammtheit aller allgemeinen organischen Erscheinungs-Reihen auf das Entschiedenste dagegen spricht, obgleich nicht zwei Naturforscher in allen Fällen über die Begrenzung der Species einig sind, so hat dennoch dieses Dogma von der Species- Constanz die gesammte Biologie bis auf Darwin fast allgemein beherrscht. Erst Darwin’s gewaltige Argumente vermochten eine Bresche in diese Zwingburg des Wunderglaubens zu schiessen, eine entscheidende Bresche, welche den unüberwindlichen Gedanken des combinirenden synthetischen Verstandes den Weg in dieses innerste Asyl vitalistischer Thorheiten öffnete.
Ohne uns hier weiter auf eine eingehende Widerlegung des Species- Dogma einlassen zu wollen, die späteren Capiteln vorbehalten bleibt, führen wir dasselbe hier nur an, um zu zeigen, welchen verderblichen Einfluss eine ausschliesslich analytische Methode in den Naturwissenschaften ausüben kann. Denn durch keinen Umstand ist das Species-Dogma so sehr ge- stützt, so allgemein in Geltung und Ansehen erhalten worden, als durch die allgemein vorherrschende analytische Beobachtung einzelner Individuen, und durch den Mangel an synthetischer und vergleichender Betrachtung der Individuen-Summe, welche die Species erst zusammensetzt. Indem man seit Linné fast allgemein und ausschliesslich bemüht war, möglichst viele neue Formen von Organismen als sogenannte Species einzeln aufzustellen,
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II. Analyse und Synthese.
Dogma seitdem fast allgemein geherrscht hat, und dass nur in der ersten
naturphilosophischen Periode Lamarck und eine Anzahl anderer bedeu-
tender Naturforscher die allgemeine Vorstellung von der Wesenheit und
Beständigkeit der organischen „Art“ zu verwerfen wagten, während in den
beiden empirischen Perioden selbst die bedeutendsten Coryphaeen der Bio-
logie sich dem harten Joche dieses wunderlichen Dogma beugten. Kein
anderer Irrthum hat sich so allgemeine Geltung erworben, hat so sehr ge-
schadet als dieser, und auf keinen ist in höherem Grade der bekannte
Spruch von Goethe anwendbar: „Immerfort wiederholte Phrasen
verknöchern sich zuletzt zur Ueberzeugung, und verstumpfen
völlig die Organe des Anschauens.“
Das Dogma von der Constanz der Species behauptet bekanntlich, dass
alle organischen Formen sich in den Begriff der Species einpferchen lassen,
d. h. in einen geschlossenen und selbstständigen Formenkreis, innerhalb
dessen zwar der Species oder Art ein gewisser Grad der Variation zu-
gestanden wird, dessen scharf bestimmte Grenzen aber die Art niemals
überschreiten soll. Jede Species ist für sich, unabhängig von den anderen,
erschaffen worden, keine ist durch Abänderung aus einer andern hervorge-
gangen. Als das morphologische Kriterium der Art wird dabei ge-
wöhnlich die Constanz aller „wesentlichen“ Merkmale (und die Variabilität
der „unwesentlichen“ Charaktere) angeführt; als das physiologische
Kriterium dagegen die Fähigkeit aller Varietäten einer Species, unter
sich fruchtbare Bastarde zu erzeugen (und die Unfähigkeit jeder Species,
mit irgend einer anderen Art vermischt fruchtbare Bastarde zu erzeugen).
Obgleich nun diese Kriterien der Species, gleich allen anderen die man
aufzustellen versucht hat, sich leicht und sicher als vollkommen unhalt-
bare und willkührliche Voraussetzungen ausweisen lassen (wie im dritten
Buche gezeigt werden soll), obgleich die Gesammtheit aller allgemeinen
organischen Erscheinungs-Reihen auf das Entschiedenste dagegen spricht,
obgleich nicht zwei Naturforscher in allen Fällen über die Begrenzung
der Species einig sind, so hat dennoch dieses Dogma von der Species-
Constanz die gesammte Biologie bis auf Darwin fast allgemein beherrscht.
Erst Darwin’s gewaltige Argumente vermochten eine Bresche in diese
Zwingburg des Wunderglaubens zu schiessen, eine entscheidende Bresche,
welche den unüberwindlichen Gedanken des combinirenden synthetischen
Verstandes den Weg in dieses innerste Asyl vitalistischer Thorheiten öffnete.
Ohne uns hier weiter auf eine eingehende Widerlegung des Species-
Dogma einlassen zu wollen, die späteren Capiteln vorbehalten bleibt, führen
wir dasselbe hier nur an, um zu zeigen, welchen verderblichen Einfluss
eine ausschliesslich analytische Methode in den Naturwissenschaften ausüben
kann. Denn durch keinen Umstand ist das Species-Dogma so sehr ge-
stützt, so allgemein in Geltung und Ansehen erhalten worden, als durch
die allgemein vorherrschende analytische Beobachtung einzelner Individuen,
und durch den Mangel an synthetischer und vergleichender Betrachtung
der Individuen-Summe, welche die Species erst zusammensetzt. Indem man
seit Linné fast allgemein und ausschliesslich bemüht war, möglichst viele
neue Formen von Organismen als sogenannte Species einzeln aufzustellen,
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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/116>, abgerufen am 24.11.2024.
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