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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Methodik der Morphologie der Organismen.
Bär sehr richtig ausdrückt, immer die eine der beiden Richtungen über die
andere bedeutend überwiegt, und zwar "sowohl für die Individuen, als für
ganze Perioden der Wissenschaft." So finden wir ein beständiges Oscilliren,
einen Wechsel der beiden Richtungen, der uns zeigt, dass niemals in gleich-
mässigem Fortschritt, sondern stets in wechselnder Wellenbewegung die
Biologie ihrem Ziele sich nähert. Die Excesse, welche jede der beiden
Forschungsrichtungen begeht, sobald sie das Uebergewicht über die andere
gewonnen hat, die Ausschliesslichkeit, durch welche jede in der Regel sich
als die allein richtige, als die "eigentliche" Methode der Naturwissenschaft
betrachtet, führen nach längerer oder kürzerer Dauer wieder zu einem
Umschwung, welcher der überlegenen Gegnerin abermals zur Herrschaft
verhilft.

Wie dieser regelmässige Regierungs-Wechsel von empirischer und
philosophischer Naturforschung auf dem gesammten Gebiete der Biologie
uns überall entgegentritt, so sehen wir ganz besonders bei einem allge-
meinen Ueberblick des Entwickelungsganges, den die Morphologie vom
Anfang des vorigen Jahrhunderts an genommen, dass die beiden feindlichen
Schwestern, die doch im Grunde nicht ohne einander leben können, stets
abwechselnd die Herrschaft behauptet haben. Nachdem Linne die Morpho-
logie der Organismen zum ersten Male in feste wissenschaftliche Form ge-
bracht, und ihr das systematische Gewand angezogen hatte, wurde zunächst
der allgemeine Strom der neubelebten Naturforschung auf die rein empirische
Beobachtung und Beschreibung der zahllosen neuen Formen hingelenkt,
welche unterschieden, benannt und in das Fachwerk des Systems einge-
ordnet werden mussten. Die systematische Beschreibung und Benennung,
als Mittel des geordneten Ueberblicks der zahllosen Einzelformen, wurde
aber bald Selbstzweck, und damit verlor sich die Formbeobachtung der
Thiere und Pflanzen in der gedankenlosesten Empirie. Das massenhaft
sich anhäufende Roh-Material forderte mehr und mehr zu einer denkenden
Verwerthung desselben auf, und so entstand die Schule der Naturphilo-
sophen, als deren bedeutendsten Forscher, wenn auch nicht (wegen man-
gelnder Anerkennung) als deren eigentlichen Begründer wir Lamarck be-
zeichnen müssen 1). In Deutschland vorzüglich durch Oken und Goethe, in
Frankreich durch Lamarck und Etienne Geoffroy S. Hilaire vertreten,
war diese ältere Naturphilosophie eifrigst bemüht, aus dem Chaos der
zahllosen Einzelbeobachtungen, die sich immer mehr zu einem unüberseh-
baren Berge häuften, allgemeine Gesetze abzuleiten und den Zusammenhang
der Erscheinungen zu ermitteln. Wie weit sie schon damals auf diesem

1) Selten ist wohl das Verdienst eines der bedeutendsten Männer so völlig
von seinen Zeitgenossen verkannt und gar nicht gewürdigt worden, wie es mit
Lamarck ein halbes Jahrhundert hindurch der Fall war. Nichts beweist dies
vielleicht so schlagend, als der Umstand, dass Cuvier in seinem Bericht über
die Fortschritte der Naturwissenschaften, in welchem auch die unbedeutendsten
Bereicherungen des empirischen Materials aufgeführt werden, des bedeutendsten
aller biologischen Werke jenes Zeitraums, der Philosophie zoologique von La-
marck,
mit keinem Worte Erwähnung thut!

Methodik der Morphologie der Organismen.
Bär sehr richtig ausdrückt, immer die eine der beiden Richtungen über die
andere bedeutend überwiegt, und zwar „sowohl für die Individuen, als für
ganze Perioden der Wissenschaft.“ So finden wir ein beständiges Oscilliren,
einen Wechsel der beiden Richtungen, der uns zeigt, dass niemals in gleich-
mässigem Fortschritt, sondern stets in wechselnder Wellenbewegung die
Biologie ihrem Ziele sich nähert. Die Excesse, welche jede der beiden
Forschungsrichtungen begeht, sobald sie das Uebergewicht über die andere
gewonnen hat, die Ausschliesslichkeit, durch welche jede in der Regel sich
als die allein richtige, als die „eigentliche“ Methode der Naturwissenschaft
betrachtet, führen nach längerer oder kürzerer Dauer wieder zu einem
Umschwung, welcher der überlegenen Gegnerin abermals zur Herrschaft
verhilft.

Wie dieser regelmässige Regierungs-Wechsel von empirischer und
philosophischer Naturforschung auf dem gesammten Gebiete der Biologie
uns überall entgegentritt, so sehen wir ganz besonders bei einem allge-
meinen Ueberblick des Entwickelungsganges, den die Morphologie vom
Anfang des vorigen Jahrhunderts an genommen, dass die beiden feindlichen
Schwestern, die doch im Grunde nicht ohne einander leben können, stets
abwechselnd die Herrschaft behauptet haben. Nachdem Linné die Morpho-
logie der Organismen zum ersten Male in feste wissenschaftliche Form ge-
bracht, und ihr das systematische Gewand angezogen hatte, wurde zunächst
der allgemeine Strom der neubelebten Naturforschung auf die rein empirische
Beobachtung und Beschreibung der zahllosen neuen Formen hingelenkt,
welche unterschieden, benannt und in das Fachwerk des Systems einge-
ordnet werden mussten. Die systematische Beschreibung und Benennung,
als Mittel des geordneten Ueberblicks der zahllosen Einzelformen, wurde
aber bald Selbstzweck, und damit verlor sich die Formbeobachtung der
Thiere und Pflanzen in der gedankenlosesten Empirie. Das massenhaft
sich anhäufende Roh-Material forderte mehr und mehr zu einer denkenden
Verwerthung desselben auf, und so entstand die Schule der Naturphilo-
sophen, als deren bedeutendsten Forscher, wenn auch nicht (wegen man-
gelnder Anerkennung) als deren eigentlichen Begründer wir Lamarck be-
zeichnen müssen 1). In Deutschland vorzüglich durch Oken und Goethe, in
Frankreich durch Lamarck und Etienne Geoffroy S. Hilaire vertreten,
war diese ältere Naturphilosophie eifrigst bemüht, aus dem Chaos der
zahllosen Einzelbeobachtungen, die sich immer mehr zu einem unüberseh-
baren Berge häuften, allgemeine Gesetze abzuleiten und den Zusammenhang
der Erscheinungen zu ermitteln. Wie weit sie schon damals auf diesem

1) Selten ist wohl das Verdienst eines der bedeutendsten Männer so völlig
von seinen Zeitgenossen verkannt und gar nicht gewürdigt worden, wie es mit
Lamarck ein halbes Jahrhundert hindurch der Fall war. Nichts beweist dies
vielleicht so schlagend, als der Umstand, dass Cuvier in seinem Bericht über
die Fortschritte der Naturwissenschaften, in welchem auch die unbedeutendsten
Bereicherungen des empirischen Materials aufgeführt werden, des bedeutendsten
aller biologischen Werke jenes Zeitraums, der Philosophie zoologique von La-
marck,
mit keinem Worte Erwähnung thut!
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[68/0107] Methodik der Morphologie der Organismen. Bär sehr richtig ausdrückt, immer die eine der beiden Richtungen über die andere bedeutend überwiegt, und zwar „sowohl für die Individuen, als für ganze Perioden der Wissenschaft.“ So finden wir ein beständiges Oscilliren, einen Wechsel der beiden Richtungen, der uns zeigt, dass niemals in gleich- mässigem Fortschritt, sondern stets in wechselnder Wellenbewegung die Biologie ihrem Ziele sich nähert. Die Excesse, welche jede der beiden Forschungsrichtungen begeht, sobald sie das Uebergewicht über die andere gewonnen hat, die Ausschliesslichkeit, durch welche jede in der Regel sich als die allein richtige, als die „eigentliche“ Methode der Naturwissenschaft betrachtet, führen nach längerer oder kürzerer Dauer wieder zu einem Umschwung, welcher der überlegenen Gegnerin abermals zur Herrschaft verhilft. Wie dieser regelmässige Regierungs-Wechsel von empirischer und philosophischer Naturforschung auf dem gesammten Gebiete der Biologie uns überall entgegentritt, so sehen wir ganz besonders bei einem allge- meinen Ueberblick des Entwickelungsganges, den die Morphologie vom Anfang des vorigen Jahrhunderts an genommen, dass die beiden feindlichen Schwestern, die doch im Grunde nicht ohne einander leben können, stets abwechselnd die Herrschaft behauptet haben. Nachdem Linné die Morpho- logie der Organismen zum ersten Male in feste wissenschaftliche Form ge- bracht, und ihr das systematische Gewand angezogen hatte, wurde zunächst der allgemeine Strom der neubelebten Naturforschung auf die rein empirische Beobachtung und Beschreibung der zahllosen neuen Formen hingelenkt, welche unterschieden, benannt und in das Fachwerk des Systems einge- ordnet werden mussten. Die systematische Beschreibung und Benennung, als Mittel des geordneten Ueberblicks der zahllosen Einzelformen, wurde aber bald Selbstzweck, und damit verlor sich die Formbeobachtung der Thiere und Pflanzen in der gedankenlosesten Empirie. Das massenhaft sich anhäufende Roh-Material forderte mehr und mehr zu einer denkenden Verwerthung desselben auf, und so entstand die Schule der Naturphilo- sophen, als deren bedeutendsten Forscher, wenn auch nicht (wegen man- gelnder Anerkennung) als deren eigentlichen Begründer wir Lamarck be- zeichnen müssen 1). In Deutschland vorzüglich durch Oken und Goethe, in Frankreich durch Lamarck und Etienne Geoffroy S. Hilaire vertreten, war diese ältere Naturphilosophie eifrigst bemüht, aus dem Chaos der zahllosen Einzelbeobachtungen, die sich immer mehr zu einem unüberseh- baren Berge häuften, allgemeine Gesetze abzuleiten und den Zusammenhang der Erscheinungen zu ermitteln. Wie weit sie schon damals auf diesem 1) Selten ist wohl das Verdienst eines der bedeutendsten Männer so völlig von seinen Zeitgenossen verkannt und gar nicht gewürdigt worden, wie es mit Lamarck ein halbes Jahrhundert hindurch der Fall war. Nichts beweist dies vielleicht so schlagend, als der Umstand, dass Cuvier in seinem Bericht über die Fortschritte der Naturwissenschaften, in welchem auch die unbedeutendsten Bereicherungen des empirischen Materials aufgeführt werden, des bedeutendsten aller biologischen Werke jenes Zeitraums, der Philosophie zoologique von La- marck, mit keinem Worte Erwähnung thut!

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/107>, abgerufen am 24.11.2024.