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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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I. Empirie und Philosophie.
die thierische Ontogenie, eine sogenannte "rein empirische und de-
scriptive Wissenschaft," neu begründete, den Titel vorangesetzt: "Ueber
Entwickelungsgeschichte der Thiere. Beobachtung und Reflexion."
Wenn seine Nachfolger diese drei Worte stets bei ihren Arbeiten im
Auge behalten hätten, würde es besser um unsere Wissenschaft aus-
sehen, als es jetzt leider aussieht. "Beobachtung und Reflexion" sollte
die Ueberschrift jeder wahrhaft natur wissenschaftlichen Arbeit lau-
ten können. Bei wie vielen aber ist dies möglich? Wenn wir ehrlich
sein wollen, können wir ihre Zahl kaum gering genug anschlagen,
und finden unter hunderten kaum eine. Und dennoch können nur durch
die innigste Wechselwirkung von Beobachtung und Reflexion wirkliche
Fortschritte in jeder Naturwissenschaft, und also auch in der Morpho-
logie, gemacht werden. Hören wir weiter, was C. E. v. Bär, der
"empirische und exacte" Naturforscher, in dieser Beziehung sagt:

"Zwei Wege sind es, auf denen die Naturwissenschaft gefördert
werden kann, Beobachtung und Reflexion. Die Forscher ergrei-
fen meistens für den einen von beiden Partei. Einige verlangen nach
Thatsachen, andere nach Resultaten und allgemeinen Gesetzen,
jene nach Kenntniss, diese nach Erkenntniss, jene möchten für
besonnen, diese für tiefblickend gelten. Glücklicherweise ist der Geist
des Menschen selten so einseitig ausgebildet, dass es ihm möglich
wird, nur den einen Weg der Forschung zu gehen, ohne auf den an-
deren Rücksicht zu nehmen. Unwillkührlich wird der Verächter der
Abstraction sich von Gedanken bei seiner Beobachtung beschleichen
lassen; und nur in kurzen Perioden der Fieberhitze ist sein Gegner ver-
mögend, sich der Speculation im Felde der Naturwissenschaft mit völ-
liger Hintansetzung der Erfahrung hinzugeben. Indessen bleibt immer,
für die Individuen sowohl als für ganze Perioden der Wissenschaft,
die eine Tendenz die vorherrschende, der man mit Bewusstsein des
Zwecks sich hingiebt, wenn auch die andere nicht ganz fehlt. 1)"

Mit diesen wenigen Worten ist das gegenseitige Wechselverhält-
niss von Beobachtung und Reflexion, die nothwendige Verbindung von
empirischer Thatsachen-Kenntniss und von philosophischer Gesetzes-
Erkenntniss treffend bezeichnet. Aber auch die Thatsache, dass in
den einzelnen Naturforschern sowohl als in den einzelnen Perioden
der Naturwissenschaft selten beide Richtungen in harmonischer Ein-
tracht und gegenseitiger Durchdringung zusammenwirken, vielmehr eine
von Beiden fast immer bedeutend über die andere überwiegt, ist von
Bär sehr richtig hervorgehoben worden, und gerade dieser Punkt ist

1) C. E. v. Bär. Zwei Worte über den jetzigen Zustand der Naturgeschichte.
Königsberg 1821. -- Treffliche Worte, welche auch heute noch in den weitesten
Kreisen Beherzigung verdienen!
Haeckel, Generelle Morphologie. 5

I. Empirie und Philosophie.
die thierische Ontogenie, eine sogenannte „rein empirische und de-
scriptive Wissenschaft,“ neu begründete, den Titel vorangesetzt: „Ueber
Entwickelungsgeschichte der Thiere. Beobachtung und Reflexion.“
Wenn seine Nachfolger diese drei Worte stets bei ihren Arbeiten im
Auge behalten hätten, würde es besser um unsere Wissenschaft aus-
sehen, als es jetzt leider aussieht. „Beobachtung und Reflexion“ sollte
die Ueberschrift jeder wahrhaft natur wissenschaftlichen Arbeit lau-
ten können. Bei wie vielen aber ist dies möglich? Wenn wir ehrlich
sein wollen, können wir ihre Zahl kaum gering genug anschlagen,
und finden unter hunderten kaum eine. Und dennoch können nur durch
die innigste Wechselwirkung von Beobachtung und Reflexion wirkliche
Fortschritte in jeder Naturwissenschaft, und also auch in der Morpho-
logie, gemacht werden. Hören wir weiter, was C. E. v. Bär, der
„empirische und exacte“ Naturforscher, in dieser Beziehung sagt:

„Zwei Wege sind es, auf denen die Naturwissenschaft gefördert
werden kann, Beobachtung und Reflexion. Die Forscher ergrei-
fen meistens für den einen von beiden Partei. Einige verlangen nach
Thatsachen, andere nach Resultaten und allgemeinen Gesetzen,
jene nach Kenntniss, diese nach Erkenntniss, jene möchten für
besonnen, diese für tiefblickend gelten. Glücklicherweise ist der Geist
des Menschen selten so einseitig ausgebildet, dass es ihm möglich
wird, nur den einen Weg der Forschung zu gehen, ohne auf den an-
deren Rücksicht zu nehmen. Unwillkührlich wird der Verächter der
Abstraction sich von Gedanken bei seiner Beobachtung beschleichen
lassen; und nur in kurzen Perioden der Fieberhitze ist sein Gegner ver-
mögend, sich der Speculation im Felde der Naturwissenschaft mit völ-
liger Hintansetzung der Erfahrung hinzugeben. Indessen bleibt immer,
für die Individuen sowohl als für ganze Perioden der Wissenschaft,
die eine Tendenz die vorherrschende, der man mit Bewusstsein des
Zwecks sich hingiebt, wenn auch die andere nicht ganz fehlt. 1)

Mit diesen wenigen Worten ist das gegenseitige Wechselverhält-
niss von Beobachtung und Reflexion, die nothwendige Verbindung von
empirischer Thatsachen-Kenntniss und von philosophischer Gesetzes-
Erkenntniss treffend bezeichnet. Aber auch die Thatsache, dass in
den einzelnen Naturforschern sowohl als in den einzelnen Perioden
der Naturwissenschaft selten beide Richtungen in harmonischer Ein-
tracht und gegenseitiger Durchdringung zusammenwirken, vielmehr eine
von Beiden fast immer bedeutend über die andere überwiegt, ist von
Bär sehr richtig hervorgehoben worden, und gerade dieser Punkt ist

1) C. E. v. Bär. Zwei Worte über den jetzigen Zustand der Naturgeschichte.
Königsberg 1821. — Treffliche Worte, welche auch heute noch in den weitesten
Kreisen Beherzigung verdienen!
Haeckel, Generelle Morphologie. 5
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[65/0104] I. Empirie und Philosophie. die thierische Ontogenie, eine sogenannte „rein empirische und de- scriptive Wissenschaft,“ neu begründete, den Titel vorangesetzt: „Ueber Entwickelungsgeschichte der Thiere. Beobachtung und Reflexion.“ Wenn seine Nachfolger diese drei Worte stets bei ihren Arbeiten im Auge behalten hätten, würde es besser um unsere Wissenschaft aus- sehen, als es jetzt leider aussieht. „Beobachtung und Reflexion“ sollte die Ueberschrift jeder wahrhaft natur wissenschaftlichen Arbeit lau- ten können. Bei wie vielen aber ist dies möglich? Wenn wir ehrlich sein wollen, können wir ihre Zahl kaum gering genug anschlagen, und finden unter hunderten kaum eine. Und dennoch können nur durch die innigste Wechselwirkung von Beobachtung und Reflexion wirkliche Fortschritte in jeder Naturwissenschaft, und also auch in der Morpho- logie, gemacht werden. Hören wir weiter, was C. E. v. Bär, der „empirische und exacte“ Naturforscher, in dieser Beziehung sagt: „Zwei Wege sind es, auf denen die Naturwissenschaft gefördert werden kann, Beobachtung und Reflexion. Die Forscher ergrei- fen meistens für den einen von beiden Partei. Einige verlangen nach Thatsachen, andere nach Resultaten und allgemeinen Gesetzen, jene nach Kenntniss, diese nach Erkenntniss, jene möchten für besonnen, diese für tiefblickend gelten. Glücklicherweise ist der Geist des Menschen selten so einseitig ausgebildet, dass es ihm möglich wird, nur den einen Weg der Forschung zu gehen, ohne auf den an- deren Rücksicht zu nehmen. Unwillkührlich wird der Verächter der Abstraction sich von Gedanken bei seiner Beobachtung beschleichen lassen; und nur in kurzen Perioden der Fieberhitze ist sein Gegner ver- mögend, sich der Speculation im Felde der Naturwissenschaft mit völ- liger Hintansetzung der Erfahrung hinzugeben. Indessen bleibt immer, für die Individuen sowohl als für ganze Perioden der Wissenschaft, die eine Tendenz die vorherrschende, der man mit Bewusstsein des Zwecks sich hingiebt, wenn auch die andere nicht ganz fehlt. 1)“ Mit diesen wenigen Worten ist das gegenseitige Wechselverhält- niss von Beobachtung und Reflexion, die nothwendige Verbindung von empirischer Thatsachen-Kenntniss und von philosophischer Gesetzes- Erkenntniss treffend bezeichnet. Aber auch die Thatsache, dass in den einzelnen Naturforschern sowohl als in den einzelnen Perioden der Naturwissenschaft selten beide Richtungen in harmonischer Ein- tracht und gegenseitiger Durchdringung zusammenwirken, vielmehr eine von Beiden fast immer bedeutend über die andere überwiegt, ist von Bär sehr richtig hervorgehoben worden, und gerade dieser Punkt ist 1) C. E. v. Bär. Zwei Worte über den jetzigen Zustand der Naturgeschichte. Königsberg 1821. — Treffliche Worte, welche auch heute noch in den weitesten Kreisen Beherzigung verdienen! Haeckel, Generelle Morphologie. 5

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/104>, abgerufen am 24.11.2024.