Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.brachten. Das Gefühl der Verachtung, welches der Ehrliche beim Anblick eines Elenden empfindet, wird er nie unterdrücken können; aber die Vernunft schon, wenn nicht das Gefühl, soll ihn bestimmen, diese Verachtung nicht bis zur Grausamkeit zu steigern. Man soll den Muth, einen schlechten Keim, der aus dem Stamm der Gesellschaft sproßte, zu ersticken, selbst dann nicht verlieren, wenn man die Bosheit aufs tiefste eingewurzelt findet und wie ein Jrrenarzt für seinen Eifer, zu helfen, nur gerade den wüthenden Angriff der Wahnsinnigen ernten sollte. Es gibt nun freilich eine andere Gedankenreihe, wo England Ursache hat, in den Hintergrund zu treten. Dies ist theils die drakonische Strenge unsrer Kriminalgesetzgebung, theils der Buchstabengeist, der in ihr herrscht. Bei uns hat man die Gesetze theils furchtbar machen wollen, theils sie durch den Buchstabengeist derselben von menschlichen Erklärungen und Ausdeutungen befreien. Sie sollten sich den individuellen Ansichten der Richter nicht anschmiegen, sie sollten, frei von aller Elastizität, eine starre, unbeugsame Nothwendigkeit vorstellen. Was hier auf der einen Seite gewonnen ward, ging auf der andern verloren. Unsre Justizpflege, wenn sie über manche Verbrechen kein Urtheil fällen zu können vorgibt, weil für sie kein Gesetz vorhanden ist, artet in Unsinn und eine gefährliche Spielerei aus. Auf der einen Seite der fast barocke Buchstabengeist dieser Vorschriften, brachten. Das Gefühl der Verachtung, welches der Ehrliche beim Anblick eines Elenden empfindet, wird er nie unterdrücken können; aber die Vernunft schon, wenn nicht das Gefühl, soll ihn bestimmen, diese Verachtung nicht bis zur Grausamkeit zu steigern. Man soll den Muth, einen schlechten Keim, der aus dem Stamm der Gesellschaft sproßte, zu ersticken, selbst dann nicht verlieren, wenn man die Bosheit aufs tiefste eingewurzelt findet und wie ein Jrrenarzt für seinen Eifer, zu helfen, nur gerade den wüthenden Angriff der Wahnsinnigen ernten sollte. Es gibt nun freilich eine andere Gedankenreihe, wo England Ursache hat, in den Hintergrund zu treten. Dies ist theils die drakonische Strenge unsrer Kriminalgesetzgebung, theils der Buchstabengeist, der in ihr herrscht. Bei uns hat man die Gesetze theils furchtbar machen wollen, theils sie durch den Buchstabengeist derselben von menschlichen Erklärungen und Ausdeutungen befreien. Sie sollten sich den individuellen Ansichten der Richter nicht anschmiegen, sie sollten, frei von aller Elastizität, eine starre, unbeugsame Nothwendigkeit vorstellen. Was hier auf der einen Seite gewonnen ward, ging auf der andern verloren. Unsre Justizpflege, wenn sie über manche Verbrechen kein Urtheil fällen zu können vorgibt, weil für sie kein Gesetz vorhanden ist, artet in Unsinn und eine gefährliche Spielerei aus. Auf der einen Seite der fast barocke Buchstabengeist dieser Vorschriften, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0087" n="85"/> brachten. Das Gefühl der Verachtung, welches der Ehrliche beim Anblick eines Elenden empfindet, wird er nie unterdrücken können; aber die Vernunft schon, wenn nicht das Gefühl, soll ihn bestimmen, diese Verachtung nicht bis zur Grausamkeit zu steigern. Man soll den Muth, einen schlechten Keim, der aus dem Stamm der Gesellschaft sproßte, zu ersticken, selbst dann nicht verlieren, wenn man die Bosheit aufs tiefste eingewurzelt findet und wie ein Jrrenarzt für seinen Eifer, zu helfen, nur gerade den wüthenden Angriff der Wahnsinnigen <hi rendition="#g">ernten</hi> sollte.</p> <p>Es gibt nun freilich eine andere Gedankenreihe, wo England Ursache hat, in den Hintergrund zu treten. Dies ist theils die drakonische Strenge unsrer Kriminalgesetzgebung, theils der Buchstabengeist, der in ihr herrscht. Bei uns hat man die Gesetze theils furchtbar machen wollen, theils sie durch den Buchstabengeist derselben von menschlichen Erklärungen und Ausdeutungen befreien. Sie sollten sich den individuellen Ansichten der Richter nicht anschmiegen, sie sollten, frei von aller Elastizität, eine starre, unbeugsame Nothwendigkeit vorstellen. Was hier auf der einen Seite gewonnen ward, ging auf der andern verloren. Unsre Justizpflege, wenn sie über manche Verbrechen kein Urtheil fällen zu können vorgibt, weil für sie kein Gesetz vorhanden ist, artet in Unsinn und eine gefährliche Spielerei aus. Auf der einen Seite der fast barocke Buchstabengeist dieser Vorschriften, </p> </div> </body> </text> </TEI> [85/0087]
brachten. Das Gefühl der Verachtung, welches der Ehrliche beim Anblick eines Elenden empfindet, wird er nie unterdrücken können; aber die Vernunft schon, wenn nicht das Gefühl, soll ihn bestimmen, diese Verachtung nicht bis zur Grausamkeit zu steigern. Man soll den Muth, einen schlechten Keim, der aus dem Stamm der Gesellschaft sproßte, zu ersticken, selbst dann nicht verlieren, wenn man die Bosheit aufs tiefste eingewurzelt findet und wie ein Jrrenarzt für seinen Eifer, zu helfen, nur gerade den wüthenden Angriff der Wahnsinnigen ernten sollte.
Es gibt nun freilich eine andere Gedankenreihe, wo England Ursache hat, in den Hintergrund zu treten. Dies ist theils die drakonische Strenge unsrer Kriminalgesetzgebung, theils der Buchstabengeist, der in ihr herrscht. Bei uns hat man die Gesetze theils furchtbar machen wollen, theils sie durch den Buchstabengeist derselben von menschlichen Erklärungen und Ausdeutungen befreien. Sie sollten sich den individuellen Ansichten der Richter nicht anschmiegen, sie sollten, frei von aller Elastizität, eine starre, unbeugsame Nothwendigkeit vorstellen. Was hier auf der einen Seite gewonnen ward, ging auf der andern verloren. Unsre Justizpflege, wenn sie über manche Verbrechen kein Urtheil fällen zu können vorgibt, weil für sie kein Gesetz vorhanden ist, artet in Unsinn und eine gefährliche Spielerei aus. Auf der einen Seite der fast barocke Buchstabengeist dieser Vorschriften,
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842/87>, abgerufen am 16.07.2024. |