Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.oder linken Seite abnehmen soll, wie viel Schritte vorher man zu grüßen hat, je nachdem uns ein Lord oder nur ein einfacher Edelmann begegnet, diese Rücksicht hat die heutige Höflichkeit mehr auf das Gefühl ihrer Beflissenen zu gründen gesucht, weil sie davon überzeugt ist, daß nichts einen schönern Eindruck macht, als sich aufmerksam beweisen bei dem muthig behaupteten Gefühl seiner Unabhängigkeit. Die Grazie darf nie ohne die Würde seyn. Die Etikette hatte aber nur Sinn für die Würde im objektiven Sinne, nämlich vor Mächtigeren das Rückgrat so krumm wie möglich zu biegen. Diese Art von Unterwürfigkeit fängt jezt schon an zu beleidigen, sie ist niemand willkommen, dem mit ihr gehuldigt werden soll. Die Achtung freier Männer erquickt mehr, als die Achtung der Sklaven; jene hat den Schein der Ueberzeugung, diese nur den des blinden Gehorsams. Natürlich ist dasjenige, was man heutiges Tages feines Benehmen, Ton und Anstand nennt, weit schwieriger, als die Etikette des vorigen Jahrhunderts. Die leztere war etwas Mechanisches; jenes muß aus einer sichern Abwägung seines innern Gleichgewichtes herkommen, muß eine innige Zusammenschmelzung von formellen und moralischen Bestandtheilen seyn. Was liebt man mehr in der Gesellschaft, was reizt mehr die Aufmerksamkeit der Frauen, als sogar eine gewisse Anomalie von den hergebrachten Anstandsvorschriften, wenn sie nämlich nur mit Gewandtheit durchgeführt und mit Energie oder linken Seite abnehmen soll, wie viel Schritte vorher man zu grüßen hat, je nachdem uns ein Lord oder nur ein einfacher Edelmann begegnet, diese Rücksicht hat die heutige Höflichkeit mehr auf das Gefühl ihrer Beflissenen zu gründen gesucht, weil sie davon überzeugt ist, daß nichts einen schönern Eindruck macht, als sich aufmerksam beweisen bei dem muthig behaupteten Gefühl seiner Unabhängigkeit. Die Grazie darf nie ohne die Würde seyn. Die Etikette hatte aber nur Sinn für die Würde im objektiven Sinne, nämlich vor Mächtigeren das Rückgrat so krumm wie möglich zu biegen. Diese Art von Unterwürfigkeit fängt jezt schon an zu beleidigen, sie ist niemand willkommen, dem mit ihr gehuldigt werden soll. Die Achtung freier Männer erquickt mehr, als die Achtung der Sklaven; jene hat den Schein der Ueberzeugung, diese nur den des blinden Gehorsams. Natürlich ist dasjenige, was man heutiges Tages feines Benehmen, Ton und Anstand nennt, weit schwieriger, als die Etikette des vorigen Jahrhunderts. Die leztere war etwas Mechanisches; jenes muß aus einer sichern Abwägung seines innern Gleichgewichtes herkommen, muß eine innige Zusammenschmelzung von formellen und moralischen Bestandtheilen seyn. Was liebt man mehr in der Gesellschaft, was reizt mehr die Aufmerksamkeit der Frauen, als sogar eine gewisse Anomalie von den hergebrachten Anstandsvorschriften, wenn sie nämlich nur mit Gewandtheit durchgeführt und mit Energie <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0031" n="29"/> oder linken Seite abnehmen soll, wie viel Schritte vorher man zu grüßen hat, je nachdem uns ein Lord oder nur ein einfacher Edelmann begegnet, diese Rücksicht hat die heutige Höflichkeit mehr auf das <hi rendition="#g">Gefühl</hi> ihrer Beflissenen zu gründen gesucht, weil sie davon überzeugt ist, daß nichts einen schönern Eindruck macht, als sich <hi rendition="#g">aufmerksam</hi> beweisen bei dem muthig behaupteten Gefühl seiner Unabhängigkeit. Die Grazie darf nie ohne die Würde seyn. Die Etikette hatte aber nur Sinn für die Würde im objektiven Sinne, nämlich vor Mächtigeren das Rückgrat so krumm wie möglich zu biegen. Diese Art von Unterwürfigkeit fängt jezt schon an zu beleidigen, sie ist niemand willkommen, dem mit ihr gehuldigt werden soll. Die Achtung freier Männer erquickt mehr, als die Achtung der Sklaven; jene hat den Schein der Ueberzeugung, diese nur den des blinden Gehorsams. Natürlich ist dasjenige, was man heutiges Tages feines Benehmen, Ton und Anstand nennt, weit schwieriger, als die Etikette des vorigen Jahrhunderts. Die leztere war etwas Mechanisches; jenes muß aus einer sichern Abwägung seines innern Gleichgewichtes herkommen, muß eine innige Zusammenschmelzung von formellen und moralischen Bestandtheilen seyn. Was liebt man mehr in der Gesellschaft, was reizt mehr die Aufmerksamkeit der Frauen, als sogar eine gewisse Anomalie von den hergebrachten Anstandsvorschriften, wenn sie nämlich nur mit Gewandtheit durchgeführt und mit Energie </p> </div> </body> </text> </TEI> [29/0031]
oder linken Seite abnehmen soll, wie viel Schritte vorher man zu grüßen hat, je nachdem uns ein Lord oder nur ein einfacher Edelmann begegnet, diese Rücksicht hat die heutige Höflichkeit mehr auf das Gefühl ihrer Beflissenen zu gründen gesucht, weil sie davon überzeugt ist, daß nichts einen schönern Eindruck macht, als sich aufmerksam beweisen bei dem muthig behaupteten Gefühl seiner Unabhängigkeit. Die Grazie darf nie ohne die Würde seyn. Die Etikette hatte aber nur Sinn für die Würde im objektiven Sinne, nämlich vor Mächtigeren das Rückgrat so krumm wie möglich zu biegen. Diese Art von Unterwürfigkeit fängt jezt schon an zu beleidigen, sie ist niemand willkommen, dem mit ihr gehuldigt werden soll. Die Achtung freier Männer erquickt mehr, als die Achtung der Sklaven; jene hat den Schein der Ueberzeugung, diese nur den des blinden Gehorsams. Natürlich ist dasjenige, was man heutiges Tages feines Benehmen, Ton und Anstand nennt, weit schwieriger, als die Etikette des vorigen Jahrhunderts. Die leztere war etwas Mechanisches; jenes muß aus einer sichern Abwägung seines innern Gleichgewichtes herkommen, muß eine innige Zusammenschmelzung von formellen und moralischen Bestandtheilen seyn. Was liebt man mehr in der Gesellschaft, was reizt mehr die Aufmerksamkeit der Frauen, als sogar eine gewisse Anomalie von den hergebrachten Anstandsvorschriften, wenn sie nämlich nur mit Gewandtheit durchgeführt und mit Energie
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842/31>, abgerufen am 16.02.2025. |