Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.Fragen auf, ganz ohne Plan und Ziel, nur darauf bedacht, sich hervorzuthun. Der Wirth aber gab auf alles Rede und Antwort und endete mit diesen Soireen jede Woche gewiß in der seligsten Stimmung von der Welt." So könnten wir aus dem Leben der sich bildenden geistlichen Jugend, ihrer Lehrer und dem Pfarrersdaseyn selbst noch viel charakteristische Züge aufzeichnen, doch ist es Zeit, diese Präludien zu beenden und unsern Gegenstand in seiner Allgemeinheit zu erfassen. Ach, welch' ein Christenthum ließ uns das achtzehnte Jahrhundert als Erbschaft zurück! Mitleidig zuckten die Philosophen zu der in Märchen verwandelten evangelischen Geschichte die Achsel. Die riesengroßen Strahlen, welche sonst die Sonne des Evangeliums geworfen hatte, wurden immer matter und zurückgedrängt in einen Anfangspunkt, der nicht einmal, bei der herrschenden Geschmacklosigkeit, noch als Poesie, sondern nur als kindische Fabel angesehen wurde. Konnten in der Philosophie nicht mehr feste und ausgearbeitete Systeme bestehen, wie Cartesius, Spinoza und Leibniz die lezten dogmatischen Versuche gemacht hatten, mußte selbst in der Philosophie sich das metaphysische Dogma vom äzenden Verstande der Empirie verzehren lassen; um wie viel mehr schwanden bei den Denkern die Ansprüche, welche bisher das Christenthum gemacht hatte, in Nichts zurück! Da, wo noch das Dogma vertheidigt wurde, mangelte es Fragen auf, ganz ohne Plan und Ziel, nur darauf bedacht, sich hervorzuthun. Der Wirth aber gab auf alles Rede und Antwort und endete mit diesen Soireen jede Woche gewiß in der seligsten Stimmung von der Welt.“ So könnten wir aus dem Leben der sich bildenden geistlichen Jugend, ihrer Lehrer und dem Pfarrersdaseyn selbst noch viel charakteristische Züge aufzeichnen, doch ist es Zeit, diese Präludien zu beenden und unsern Gegenstand in seiner Allgemeinheit zu erfassen. Ach, welch’ ein Christenthum ließ uns das achtzehnte Jahrhundert als Erbschaft zurück! Mitleidig zuckten die Philosophen zu der in Märchen verwandelten evangelischen Geschichte die Achsel. Die riesengroßen Strahlen, welche sonst die Sonne des Evangeliums geworfen hatte, wurden immer matter und zurückgedrängt in einen Anfangspunkt, der nicht einmal, bei der herrschenden Geschmacklosigkeit, noch als Poesie, sondern nur als kindische Fabel angesehen wurde. Konnten in der Philosophie nicht mehr feste und ausgearbeitete Systeme bestehen, wie Cartesius, Spinoza und Leibniz die lezten dogmatischen Versuche gemacht hatten, mußte selbst in der Philosophie sich das metaphysische Dogma vom äzenden Verstande der Empirie verzehren lassen; um wie viel mehr schwanden bei den Denkern die Ansprüche, welche bisher das Christenthum gemacht hatte, in Nichts zurück! Da, wo noch das Dogma vertheidigt wurde, mangelte es <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0141" n="139"/> Fragen auf, ganz ohne Plan und Ziel, nur darauf bedacht, sich hervorzuthun. Der Wirth aber gab auf alles Rede und Antwort und endete mit diesen Soireen jede Woche gewiß in der seligsten Stimmung von der Welt.“</p> <p>So könnten wir aus dem Leben der sich bildenden geistlichen Jugend, ihrer Lehrer und dem Pfarrersdaseyn selbst noch viel charakteristische Züge aufzeichnen, doch ist es Zeit, diese Präludien zu beenden und unsern Gegenstand in seiner Allgemeinheit zu erfassen.</p> <p>Ach, welch’ ein Christenthum ließ uns das achtzehnte Jahrhundert als Erbschaft zurück! Mitleidig zuckten die Philosophen zu der in Märchen verwandelten evangelischen Geschichte die Achsel. Die riesengroßen Strahlen, welche sonst die Sonne des Evangeliums geworfen hatte, wurden immer matter und zurückgedrängt in einen Anfangspunkt, der nicht einmal, bei der herrschenden Geschmacklosigkeit, noch als Poesie, sondern nur als kindische Fabel angesehen wurde. Konnten in der Philosophie nicht mehr feste und ausgearbeitete Systeme bestehen, wie <hi rendition="#g">Cartesius</hi>, <hi rendition="#g">Spinoza</hi> und <hi rendition="#g">Leibniz</hi> die lezten dogmatischen Versuche gemacht hatten, mußte selbst in der Philosophie sich das metaphysische Dogma vom äzenden Verstande der Empirie verzehren lassen; um wie viel mehr schwanden bei den Denkern die Ansprüche, welche bisher das Christenthum gemacht hatte, in Nichts zurück! Da, wo noch das Dogma vertheidigt wurde, mangelte es </p> </div> </body> </text> </TEI> [139/0141]
Fragen auf, ganz ohne Plan und Ziel, nur darauf bedacht, sich hervorzuthun. Der Wirth aber gab auf alles Rede und Antwort und endete mit diesen Soireen jede Woche gewiß in der seligsten Stimmung von der Welt.“
So könnten wir aus dem Leben der sich bildenden geistlichen Jugend, ihrer Lehrer und dem Pfarrersdaseyn selbst noch viel charakteristische Züge aufzeichnen, doch ist es Zeit, diese Präludien zu beenden und unsern Gegenstand in seiner Allgemeinheit zu erfassen.
Ach, welch’ ein Christenthum ließ uns das achtzehnte Jahrhundert als Erbschaft zurück! Mitleidig zuckten die Philosophen zu der in Märchen verwandelten evangelischen Geschichte die Achsel. Die riesengroßen Strahlen, welche sonst die Sonne des Evangeliums geworfen hatte, wurden immer matter und zurückgedrängt in einen Anfangspunkt, der nicht einmal, bei der herrschenden Geschmacklosigkeit, noch als Poesie, sondern nur als kindische Fabel angesehen wurde. Konnten in der Philosophie nicht mehr feste und ausgearbeitete Systeme bestehen, wie Cartesius, Spinoza und Leibniz die lezten dogmatischen Versuche gemacht hatten, mußte selbst in der Philosophie sich das metaphysische Dogma vom äzenden Verstande der Empirie verzehren lassen; um wie viel mehr schwanden bei den Denkern die Ansprüche, welche bisher das Christenthum gemacht hatte, in Nichts zurück! Da, wo noch das Dogma vertheidigt wurde, mangelte es
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842/141>, abgerufen am 28.07.2024. |