Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.klar gegenüber halten können. Auch haben wir vielleicht im Grund unsres Herzens weit weniger Sitte, als das Alterthum; allein unser ganzes Bemühen ist wenigstens auf den Schein derselben eingerichtet, so daß wir all' unsere Sitten allmälig ins Graue verflacht und sie in den Spülicht unsrer Moralität hinein verwaschen haben. Wir sind sogar durch die Steigerung unsres künstlichen Wesens dahin gekommen, daß wir der Natur nicht selten näher stehen, als viele Völker, welche in ihren Sitten ganz von der Natur beherrscht werden. Der Araber trägt seinen Degen auf der rechten Seite; er ist ein Sohn der Natur, und doch handeln wir naturgemäßer, die wir ihn auf der linken tragen. So hat die Sitte, worunter man hier nicht blos die Regung des Herzens, sondern ebenso den klügelnden, mathematisch nachrechnenden Verstand begreifen soll, bei uns allmälig die Sitten verdrängt. Wir fangen nur in dem Fall an, an unsren eigenen Gewohnheiten selbst irr zu werden, wenn wir bei andern Völkern gerade das Gegentheil davon bemerken und uns denken, wie wir diesen wohl von unsrer Seite erscheinen mögen. Das Sittenprinzip der Alten muß man mit dem ihrer Philosophen nicht verwechseln. Die Alten fanden nicht, wie wir, das Sittliche darin, daß man in seiner Lebensweise sich von einzelnen, grell aufgetragenen Gewohnheiten in eine allgemein menschliche und vernünftige Form verflache, sondern das in ihnen noch klar gegenüber halten können. Auch haben wir vielleicht im Grund unsres Herzens weit weniger Sitte, als das Alterthum; allein unser ganzes Bemühen ist wenigstens auf den Schein derselben eingerichtet, so daß wir all’ unsere Sitten allmälig ins Graue verflacht und sie in den Spülicht unsrer Moralität hinein verwaschen haben. Wir sind sogar durch die Steigerung unsres künstlichen Wesens dahin gekommen, daß wir der Natur nicht selten näher stehen, als viele Völker, welche in ihren Sitten ganz von der Natur beherrscht werden. Der Araber trägt seinen Degen auf der rechten Seite; er ist ein Sohn der Natur, und doch handeln wir naturgemäßer, die wir ihn auf der linken tragen. So hat die Sitte, worunter man hier nicht blos die Regung des Herzens, sondern ebenso den klügelnden, mathematisch nachrechnenden Verstand begreifen soll, bei uns allmälig die Sitten verdrängt. Wir fangen nur in dem Fall an, an unsren eigenen Gewohnheiten selbst irr zu werden, wenn wir bei andern Völkern gerade das Gegentheil davon bemerken und uns denken, wie wir diesen wohl von unsrer Seite erscheinen mögen. Das Sittenprinzip der Alten muß man mit dem ihrer Philosophen nicht verwechseln. Die Alten fanden nicht, wie wir, das Sittliche darin, daß man in seiner Lebensweise sich von einzelnen, grell aufgetragenen Gewohnheiten in eine allgemein menschliche und vernünftige Form verflache, sondern das in ihnen noch <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0010" n="8"/> klar gegenüber halten können. Auch haben wir vielleicht im Grund unsres Herzens weit weniger Sitte, als das Alterthum; allein unser ganzes Bemühen ist wenigstens auf den Schein derselben eingerichtet, so daß wir all’ unsere Sitten allmälig ins Graue verflacht und sie in den Spülicht unsrer Moralität hinein verwaschen haben. Wir sind sogar durch die Steigerung unsres künstlichen Wesens dahin gekommen, daß wir der Natur nicht selten näher stehen, als viele Völker, welche in ihren Sitten ganz von der Natur beherrscht werden. Der Araber trägt seinen Degen auf der rechten Seite; er ist ein Sohn der Natur, und doch handeln wir naturgemäßer, die wir ihn auf der linken tragen. So hat die <hi rendition="#g">Sitte</hi>, worunter man hier nicht blos die Regung des Herzens, sondern ebenso den klügelnden, mathematisch nachrechnenden Verstand begreifen soll, bei uns allmälig die <hi rendition="#g">Sitten</hi> verdrängt. Wir fangen nur in dem Fall an, an unsren eigenen Gewohnheiten selbst irr zu werden, wenn wir bei andern Völkern gerade das Gegentheil davon bemerken und uns denken, wie wir diesen wohl von unsrer Seite erscheinen mögen.</p> <p>Das Sittenprinzip der Alten muß man mit dem ihrer Philosophen nicht verwechseln. Die Alten fanden nicht, wie wir, das Sittliche darin, daß man in seiner Lebensweise sich von einzelnen, grell aufgetragenen Gewohnheiten in eine allgemein menschliche und vernünftige Form verflache, sondern das in ihnen noch </p> </div> </body> </text> </TEI> [8/0010]
klar gegenüber halten können. Auch haben wir vielleicht im Grund unsres Herzens weit weniger Sitte, als das Alterthum; allein unser ganzes Bemühen ist wenigstens auf den Schein derselben eingerichtet, so daß wir all’ unsere Sitten allmälig ins Graue verflacht und sie in den Spülicht unsrer Moralität hinein verwaschen haben. Wir sind sogar durch die Steigerung unsres künstlichen Wesens dahin gekommen, daß wir der Natur nicht selten näher stehen, als viele Völker, welche in ihren Sitten ganz von der Natur beherrscht werden. Der Araber trägt seinen Degen auf der rechten Seite; er ist ein Sohn der Natur, und doch handeln wir naturgemäßer, die wir ihn auf der linken tragen. So hat die Sitte, worunter man hier nicht blos die Regung des Herzens, sondern ebenso den klügelnden, mathematisch nachrechnenden Verstand begreifen soll, bei uns allmälig die Sitten verdrängt. Wir fangen nur in dem Fall an, an unsren eigenen Gewohnheiten selbst irr zu werden, wenn wir bei andern Völkern gerade das Gegentheil davon bemerken und uns denken, wie wir diesen wohl von unsrer Seite erscheinen mögen.
Das Sittenprinzip der Alten muß man mit dem ihrer Philosophen nicht verwechseln. Die Alten fanden nicht, wie wir, das Sittliche darin, daß man in seiner Lebensweise sich von einzelnen, grell aufgetragenen Gewohnheiten in eine allgemein menschliche und vernünftige Form verflache, sondern das in ihnen noch
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842/10>, abgerufen am 16.02.2025. |