Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.Wenn es eine Folge der immer mehr um sich greifenden Bildung ist, daß man über seine Sphäre sich zu erheben sucht, so wird die Moral hier immer mehr in die Enge kommen. Die gesteigerte Bildung steigert wiederum die Bedürfnisse, und sie auf diese oder jene Weise zu befriedigen, wird man schon durch das Ammenmährchen des Gewissens wenig gehindert. Die Verbrechen nehmen, wie die Criminalstatistik ausweist, mit steigender Bildung zu. Alles drängt sich nach oben hinauf und tritt schonungslos nieder, was ihm im Wege steht. Unsere heutigen Philosophen scheinen zu fühlen, daß die Verbrechen jetzt mehr durch einen Zug, der in der Zeit liegt, verübt werden, als durch individuelle Verdorbenheit. Aber das Mittel, was sie gegen dieses Uebel anwenden wollen, die Milde der Strafen, ist wenig geeignet, Einhalt zu thun. Man sollte auf die Zeit selbst zu wirken suchen und ihr die gedankenlose materielle Tendenz zu nehmen suchen, welche sich bedeutend mildern würde, wenn unsre Erziehung mehr für die wirkliche Welt geschähe, und wir in der Schule schon lernten, vom Leben nicht allzu große Hoffnungen zu hegen. Es gibt eine dunkle Schattenpartie im menschlichen Gemüthe, die sich, vielleicht durch den vorwitzigen Magnetismus beschworen, an's Tageslicht zu drängen sucht. Allein sie kündigt sich durch keine Thaten an, die dem Zwecke der Gesellschaft entsprechen. Die Revolutionssucht, die sich bis zum Königsmorde in unsern Tagen gesteigert hat, ist eine Erscheinung dieser zweideutigen Wenn es eine Folge der immer mehr um sich greifenden Bildung ist, daß man über seine Sphäre sich zu erheben sucht, so wird die Moral hier immer mehr in die Enge kommen. Die gesteigerte Bildung steigert wiederum die Bedürfnisse, und sie auf diese oder jene Weise zu befriedigen, wird man schon durch das Ammenmährchen des Gewissens wenig gehindert. Die Verbrechen nehmen, wie die Criminalstatistik ausweist, mit steigender Bildung zu. Alles drängt sich nach oben hinauf und tritt schonungslos nieder, was ihm im Wege steht. Unsere heutigen Philosophen scheinen zu fühlen, daß die Verbrechen jetzt mehr durch einen Zug, der in der Zeit liegt, verübt werden, als durch individuelle Verdorbenheit. Aber das Mittel, was sie gegen dieses Uebel anwenden wollen, die Milde der Strafen, ist wenig geeignet, Einhalt zu thun. Man sollte auf die Zeit selbst zu wirken suchen und ihr die gedankenlose materielle Tendenz zu nehmen suchen, welche sich bedeutend mildern würde, wenn unsre Erziehung mehr für die wirkliche Welt geschähe, und wir in der Schule schon lernten, vom Leben nicht allzu große Hoffnungen zu hegen. Es gibt eine dunkle Schattenpartie im menschlichen Gemüthe, die sich, vielleicht durch den vorwitzigen Magnetismus beschworen, an’s Tageslicht zu drängen sucht. Allein sie kündigt sich durch keine Thaten an, die dem Zwecke der Gesellschaft entsprechen. Die Revolutionssucht, die sich bis zum Königsmorde in unsern Tagen gesteigert hat, ist eine Erscheinung dieser zweideutigen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0087" n="59"/> <p> Wenn es eine Folge der immer mehr um sich greifenden Bildung ist, daß man über seine Sphäre sich zu erheben sucht, so wird die Moral hier immer mehr in die Enge kommen. Die gesteigerte Bildung steigert wiederum die Bedürfnisse, und sie auf diese oder jene Weise zu befriedigen, wird man schon durch das Ammenmährchen des Gewissens wenig gehindert. Die Verbrechen nehmen, wie die Criminalstatistik ausweist, mit steigender Bildung zu. Alles drängt sich nach oben hinauf und tritt schonungslos nieder, was ihm im Wege steht. Unsere heutigen Philosophen scheinen zu fühlen, daß die Verbrechen jetzt mehr durch einen Zug, der in der Zeit liegt, verübt werden, als durch individuelle Verdorbenheit. Aber das Mittel, was sie gegen dieses Uebel anwenden wollen, die Milde der Strafen, ist wenig geeignet, Einhalt zu thun. Man sollte auf die Zeit selbst zu wirken suchen und ihr die gedankenlose materielle Tendenz zu nehmen suchen, welche sich bedeutend mildern würde, wenn unsre Erziehung mehr für die wirkliche Welt geschähe, und wir in der Schule schon lernten, vom Leben nicht allzu große Hoffnungen zu hegen. Es gibt eine dunkle Schattenpartie im menschlichen Gemüthe, die sich, vielleicht durch den vorwitzigen Magnetismus beschworen, an’s Tageslicht zu drängen sucht. Allein sie kündigt sich durch keine Thaten an, die dem Zwecke der Gesellschaft entsprechen. Die Revolutionssucht, die sich bis zum Königsmorde in unsern Tagen gesteigert hat, ist eine Erscheinung dieser zweideutigen </p> </div> </body> </text> </TEI> [59/0087]
Wenn es eine Folge der immer mehr um sich greifenden Bildung ist, daß man über seine Sphäre sich zu erheben sucht, so wird die Moral hier immer mehr in die Enge kommen. Die gesteigerte Bildung steigert wiederum die Bedürfnisse, und sie auf diese oder jene Weise zu befriedigen, wird man schon durch das Ammenmährchen des Gewissens wenig gehindert. Die Verbrechen nehmen, wie die Criminalstatistik ausweist, mit steigender Bildung zu. Alles drängt sich nach oben hinauf und tritt schonungslos nieder, was ihm im Wege steht. Unsere heutigen Philosophen scheinen zu fühlen, daß die Verbrechen jetzt mehr durch einen Zug, der in der Zeit liegt, verübt werden, als durch individuelle Verdorbenheit. Aber das Mittel, was sie gegen dieses Uebel anwenden wollen, die Milde der Strafen, ist wenig geeignet, Einhalt zu thun. Man sollte auf die Zeit selbst zu wirken suchen und ihr die gedankenlose materielle Tendenz zu nehmen suchen, welche sich bedeutend mildern würde, wenn unsre Erziehung mehr für die wirkliche Welt geschähe, und wir in der Schule schon lernten, vom Leben nicht allzu große Hoffnungen zu hegen. Es gibt eine dunkle Schattenpartie im menschlichen Gemüthe, die sich, vielleicht durch den vorwitzigen Magnetismus beschworen, an’s Tageslicht zu drängen sucht. Allein sie kündigt sich durch keine Thaten an, die dem Zwecke der Gesellschaft entsprechen. Die Revolutionssucht, die sich bis zum Königsmorde in unsern Tagen gesteigert hat, ist eine Erscheinung dieser zweideutigen
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/87>, abgerufen am 28.07.2024. |