Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.Geschichte ihres Geschlechts schreiben könnte, wenn nämlich in der Geschichte der Prüderie und Medisance seit dem vorigen Jahrhundert so wichtige Veränderungen vorgefallen seyn sollten. Man kann nicht von der Bildung der Frauen sprechen, ohne erst die Untreue der Männer zu erwähnen. Jch meine jene geistige Untreue, welche mit dem öffentlichen Leben, der Kunst, mit seinem Unterhalt täglich Hochzeit hält und das Weib daheim in Einsamkeit läßt. Aus dieser Einsamkeit heraus entwickelt sich jene eigenthümliche Anschauungsweise, welche die Frauen unsrer Tage charakterisirt. Jm Durchschnitt werden sie alle gegen das Uebermaß der Gefühle protestiren, sie haben in ihre Empfindungen etwas Kaltes aufgenommen, das vielleicht auch in einer größern Stumpfheit der Nerven bestehen könnte. Unsre Frauen haben dadurch, daß man durch unsre sehr mittelmäßige pädagogische Literatur immer nur auf ihre Bestimmung hinarbeitete, auf die Tochter, auf die Confirmandin, auf die Braut, auf die Gattin, auf die Mutter, vergessen, jenes rein Weibliche, das sich durch alle diese Zustände doch hindurchziehen müßte, zu cultiviren. Jndem sie immer nur an die Zielpunkte denken lernen, vergessen sie, was zwischen ihnen in der Mitte liegt. Man kann sogar eine gewisse Furcht wahrnehmen, dem unmittelbaren Drange der Natur, wie sie in uns wirkt und gewirkt wird, sich hinzugeben, wie ich denn eine Frau kenne, die um keinen Preis es über sich gewinnen kann, Geschichte ihres Geschlechts schreiben könnte, wenn nämlich in der Geschichte der Prüderie und Medisance seit dem vorigen Jahrhundert so wichtige Veränderungen vorgefallen seyn sollten. Man kann nicht von der Bildung der Frauen sprechen, ohne erst die Untreue der Männer zu erwähnen. Jch meine jene geistige Untreue, welche mit dem öffentlichen Leben, der Kunst, mit seinem Unterhalt täglich Hochzeit hält und das Weib daheim in Einsamkeit läßt. Aus dieser Einsamkeit heraus entwickelt sich jene eigenthümliche Anschauungsweise, welche die Frauen unsrer Tage charakterisirt. Jm Durchschnitt werden sie alle gegen das Uebermaß der Gefühle protestiren, sie haben in ihre Empfindungen etwas Kaltes aufgenommen, das vielleicht auch in einer größern Stumpfheit der Nerven bestehen könnte. Unsre Frauen haben dadurch, daß man durch unsre sehr mittelmäßige pädagogische Literatur immer nur auf ihre Bestimmung hinarbeitete, auf die Tochter, auf die Confirmandin, auf die Braut, auf die Gattin, auf die Mutter, vergessen, jenes rein Weibliche, das sich durch alle diese Zustände doch hindurchziehen müßte, zu cultiviren. Jndem sie immer nur an die Zielpunkte denken lernen, vergessen sie, was zwischen ihnen in der Mitte liegt. Man kann sogar eine gewisse Furcht wahrnehmen, dem unmittelbaren Drange der Natur, wie sie in uns wirkt und gewirkt wird, sich hinzugeben, wie ich denn eine Frau kenne, die um keinen Preis es über sich gewinnen kann, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0079" n="51"/> Geschichte ihres Geschlechts schreiben könnte, wenn nämlich in der Geschichte der Prüderie und Medisance seit dem vorigen Jahrhundert so wichtige Veränderungen vorgefallen seyn sollten.</p> <p> Man kann nicht von der Bildung der Frauen sprechen, ohne erst die Untreue der Männer zu erwähnen. Jch meine jene geistige Untreue, welche mit dem öffentlichen Leben, der Kunst, mit seinem Unterhalt täglich Hochzeit hält und das Weib daheim in Einsamkeit läßt. Aus dieser Einsamkeit heraus entwickelt sich jene eigenthümliche Anschauungsweise, welche die Frauen unsrer Tage charakterisirt. Jm Durchschnitt werden sie alle gegen das Uebermaß der Gefühle protestiren, sie haben in ihre Empfindungen etwas Kaltes aufgenommen, das vielleicht auch in einer größern Stumpfheit der Nerven bestehen könnte. Unsre Frauen haben dadurch, daß man durch unsre sehr mittelmäßige pädagogische Literatur immer nur auf ihre Bestimmung hinarbeitete, auf die Tochter, auf die Confirmandin, auf die Braut, auf die Gattin, auf die Mutter, vergessen, jenes rein Weibliche, das sich durch alle diese Zustände doch hindurchziehen müßte, zu cultiviren. Jndem sie immer nur an die Zielpunkte denken lernen, vergessen sie, was zwischen ihnen in der Mitte liegt. Man kann sogar eine gewisse Furcht wahrnehmen, dem unmittelbaren Drange der Natur, wie sie in uns wirkt und gewirkt wird, sich hinzugeben, wie ich denn eine Frau kenne, die um keinen Preis es über sich gewinnen kann, </p> </div> </body> </text> </TEI> [51/0079]
Geschichte ihres Geschlechts schreiben könnte, wenn nämlich in der Geschichte der Prüderie und Medisance seit dem vorigen Jahrhundert so wichtige Veränderungen vorgefallen seyn sollten.
Man kann nicht von der Bildung der Frauen sprechen, ohne erst die Untreue der Männer zu erwähnen. Jch meine jene geistige Untreue, welche mit dem öffentlichen Leben, der Kunst, mit seinem Unterhalt täglich Hochzeit hält und das Weib daheim in Einsamkeit läßt. Aus dieser Einsamkeit heraus entwickelt sich jene eigenthümliche Anschauungsweise, welche die Frauen unsrer Tage charakterisirt. Jm Durchschnitt werden sie alle gegen das Uebermaß der Gefühle protestiren, sie haben in ihre Empfindungen etwas Kaltes aufgenommen, das vielleicht auch in einer größern Stumpfheit der Nerven bestehen könnte. Unsre Frauen haben dadurch, daß man durch unsre sehr mittelmäßige pädagogische Literatur immer nur auf ihre Bestimmung hinarbeitete, auf die Tochter, auf die Confirmandin, auf die Braut, auf die Gattin, auf die Mutter, vergessen, jenes rein Weibliche, das sich durch alle diese Zustände doch hindurchziehen müßte, zu cultiviren. Jndem sie immer nur an die Zielpunkte denken lernen, vergessen sie, was zwischen ihnen in der Mitte liegt. Man kann sogar eine gewisse Furcht wahrnehmen, dem unmittelbaren Drange der Natur, wie sie in uns wirkt und gewirkt wird, sich hinzugeben, wie ich denn eine Frau kenne, die um keinen Preis es über sich gewinnen kann,
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/79>, abgerufen am 16.02.2025. |