Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.statt diese Schriften zu verbrennen, las sie selbst mit der größten Theilnahme und entgegnete mir, als ich ihr darüber Vorwürfe machte, daß es nur der Styl und die kunstvolle Behandlungsweise wären, welche sie zur Theilnahme an diesen, wie sie sagte, interessanten und für die Bildung der jetzigen Jugend beinah' unerläßlichen Schriften bestimmte. Konnte es unter solchen Umständen fehlen, daß diese dem Verderben entgegeneilende Familie sich auch Verhältnisse zu schaffen suchte, welche ganz nach der romanhaften Musterwirthschaft, die in ihrer Phantasie lebte, eingerichtet waren! Wie viel Verwicklungen ihrer leidenschaftlichen Herzen mögen sie mir verborgen gehalten haben; aber wie bedenklich sind schon diejenigen, die ich selber zu durchschauen Gelegenheit hatte! Jn einem Momente, wo meine Schwester sich gehen ließ und die Rücksicht auf mich eben so vergessen hatte, wie fast immer die auf ihre Kinder, sagte sie: "Unsere ganze jetzige Gesellschaft geht darauf aus, die Fesseln der überlieferten Gewohnheit zu sprengen. Ein junges Mädchen war früher nur dazu bestimmt, sich von den Männern aufsuchen zu lassen und sich so viel wie möglich das interessante Lüstre einer nonnenhaften Zurückgezogenheit zu geben. Jetzt würde aber der, welcher sich zu verbergen sucht, auch wirklich in die Gefahr kommen, verborgen zu bleiben; alles will jetzt heraus, alles will sich jetzt sehen lassen und an dem Wettkampf der öffentlichen Meinung Theil nehmen; das Talent, was man gegenwärtig hat, kann man nur in seiner öffentlichen Entfaltung statt diese Schriften zu verbrennen, las sie selbst mit der größten Theilnahme und entgegnete mir, als ich ihr darüber Vorwürfe machte, daß es nur der Styl und die kunstvolle Behandlungsweise wären, welche sie zur Theilnahme an diesen, wie sie sagte, interessanten und für die Bildung der jetzigen Jugend beinah’ unerläßlichen Schriften bestimmte. Konnte es unter solchen Umständen fehlen, daß diese dem Verderben entgegeneilende Familie sich auch Verhältnisse zu schaffen suchte, welche ganz nach der romanhaften Musterwirthschaft, die in ihrer Phantasie lebte, eingerichtet waren! Wie viel Verwicklungen ihrer leidenschaftlichen Herzen mögen sie mir verborgen gehalten haben; aber wie bedenklich sind schon diejenigen, die ich selber zu durchschauen Gelegenheit hatte! Jn einem Momente, wo meine Schwester sich gehen ließ und die Rücksicht auf mich eben so vergessen hatte, wie fast immer die auf ihre Kinder, sagte sie: "Unsere ganze jetzige Gesellschaft geht darauf aus, die Fesseln der überlieferten Gewohnheit zu sprengen. Ein junges Mädchen war früher nur dazu bestimmt, sich von den Männern aufsuchen zu lassen und sich so viel wie möglich das interessante Lüstre einer nonnenhaften Zurückgezogenheit zu geben. Jetzt würde aber der, welcher sich zu verbergen sucht, auch wirklich in die Gefahr kommen, verborgen zu bleiben; alles will jetzt heraus, alles will sich jetzt sehen lassen und an dem Wettkampf der öffentlichen Meinung Theil nehmen; das Talent, was man gegenwärtig hat, kann man nur in seiner öffentlichen Entfaltung <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0485" n="457"/> statt diese Schriften zu verbrennen, las sie selbst mit der größten Theilnahme und entgegnete mir, als ich ihr darüber Vorwürfe machte, daß es nur der Styl und die kunstvolle Behandlungsweise wären, welche sie zur Theilnahme an diesen, wie sie sagte, interessanten und für die Bildung der jetzigen Jugend beinah’ unerläßlichen Schriften bestimmte. Konnte es unter solchen Umständen fehlen, daß diese dem Verderben entgegeneilende Familie sich auch Verhältnisse zu schaffen suchte, welche ganz nach der romanhaften Musterwirthschaft, die in ihrer Phantasie lebte, eingerichtet waren! Wie viel Verwicklungen ihrer leidenschaftlichen Herzen mögen sie mir verborgen gehalten haben; aber wie bedenklich sind schon diejenigen, die ich selber zu durchschauen Gelegenheit hatte! Jn einem Momente, wo meine Schwester sich gehen ließ und die Rücksicht auf mich eben so vergessen hatte, wie fast immer die auf ihre Kinder, sagte sie: "Unsere ganze jetzige Gesellschaft geht darauf aus, die Fesseln der überlieferten Gewohnheit zu sprengen. Ein junges Mädchen war früher nur dazu bestimmt, sich von den Männern aufsuchen zu lassen und sich so viel wie möglich das interessante Lüstre einer nonnenhaften Zurückgezogenheit zu geben. Jetzt würde aber der, welcher sich zu verbergen sucht, auch wirklich in die Gefahr kommen, verborgen zu bleiben; alles will jetzt heraus, alles will sich jetzt sehen lassen und an dem Wettkampf der öffentlichen Meinung Theil nehmen; das Talent, was man gegenwärtig hat, kann man nur in seiner öffentlichen Entfaltung </p> </div> </body> </text> </TEI> [457/0485]
statt diese Schriften zu verbrennen, las sie selbst mit der größten Theilnahme und entgegnete mir, als ich ihr darüber Vorwürfe machte, daß es nur der Styl und die kunstvolle Behandlungsweise wären, welche sie zur Theilnahme an diesen, wie sie sagte, interessanten und für die Bildung der jetzigen Jugend beinah’ unerläßlichen Schriften bestimmte. Konnte es unter solchen Umständen fehlen, daß diese dem Verderben entgegeneilende Familie sich auch Verhältnisse zu schaffen suchte, welche ganz nach der romanhaften Musterwirthschaft, die in ihrer Phantasie lebte, eingerichtet waren! Wie viel Verwicklungen ihrer leidenschaftlichen Herzen mögen sie mir verborgen gehalten haben; aber wie bedenklich sind schon diejenigen, die ich selber zu durchschauen Gelegenheit hatte! Jn einem Momente, wo meine Schwester sich gehen ließ und die Rücksicht auf mich eben so vergessen hatte, wie fast immer die auf ihre Kinder, sagte sie: "Unsere ganze jetzige Gesellschaft geht darauf aus, die Fesseln der überlieferten Gewohnheit zu sprengen. Ein junges Mädchen war früher nur dazu bestimmt, sich von den Männern aufsuchen zu lassen und sich so viel wie möglich das interessante Lüstre einer nonnenhaften Zurückgezogenheit zu geben. Jetzt würde aber der, welcher sich zu verbergen sucht, auch wirklich in die Gefahr kommen, verborgen zu bleiben; alles will jetzt heraus, alles will sich jetzt sehen lassen und an dem Wettkampf der öffentlichen Meinung Theil nehmen; das Talent, was man gegenwärtig hat, kann man nur in seiner öffentlichen Entfaltung
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 457. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/485>, abgerufen am 28.07.2024. |