Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.die Verpflichtung hatte, für ihre moralische Ausbildung Sorge zu tragen. Dabei war der Egoismus meines Bruders doch sehr rührend für mich, denn bei dem Vorhaben, nur seinem Körper leben zu wollen, gönnte er sich nicht die geringste Erholung. An nichts hatte er sonst Lust und Freude. Von jedem Comfort war er entblößt; er saß auf harten Schemeln, schlief, trotz seines schwächlichen Körpers, nur auf Matrazen; er trank nie Kaffee oder Wein; damit nannte er sich einen Mann des Jahrhunderts, einen indischen Gymnosophisten, einen Johannes in der Wüste, der dem neuen Evangelium des Wassers vorangegangen wäre. Könnten wir zu Hause bei uns eine hinreichende Anzahl Heuschrecken auftreiben, ich glaube, mein Bruder würde in der Tollheit seiner Entsagungsphilosophie daraus seine tägliche Nahrung machen. Da ich nun wohl sah, daß der unglückliche Glückliche zu allem schwieg, was seine Wasserkuren nicht betraf, ging ich von ihm, ohne jedoch einen Schwall von Vorwürfen zu unterdrücken, die er verdient hatte, denn unerhört ist es, sich zehn Jahre lang nicht zu sehn und sich dann so wieder zu begegnen. Meine Schwester war in den unverantwortlichsten Leichtsinn versunken, mein Bruder in eine Thorheit, von welcher man zu meinen Zeiten nicht die Ahnung gehabt hätte. Bab traf ich endlich mit ihren Töchtern zugänglich. Sie hatten alle die Migräne und nahmen, um die Folge des gestrigen Balles zu überwinden, hinter einander Pillen ein. Meine die Verpflichtung hatte, für ihre moralische Ausbildung Sorge zu tragen. Dabei war der Egoismus meines Bruders doch sehr rührend für mich, denn bei dem Vorhaben, nur seinem Körper leben zu wollen, gönnte er sich nicht die geringste Erholung. An nichts hatte er sonst Lust und Freude. Von jedem Comfort war er entblößt; er saß auf harten Schemeln, schlief, trotz seines schwächlichen Körpers, nur auf Matrazen; er trank nie Kaffee oder Wein; damit nannte er sich einen Mann des Jahrhunderts, einen indischen Gymnosophisten, einen Johannes in der Wüste, der dem neuen Evangelium des Wassers vorangegangen wäre. Könnten wir zu Hause bei uns eine hinreichende Anzahl Heuschrecken auftreiben, ich glaube, mein Bruder würde in der Tollheit seiner Entsagungsphilosophie daraus seine tägliche Nahrung machen. Da ich nun wohl sah, daß der unglückliche Glückliche zu allem schwieg, was seine Wasserkuren nicht betraf, ging ich von ihm, ohne jedoch einen Schwall von Vorwürfen zu unterdrücken, die er verdient hatte, denn unerhört ist es, sich zehn Jahre lang nicht zu sehn und sich dann so wieder zu begegnen. Meine Schwester war in den unverantwortlichsten Leichtsinn versunken, mein Bruder in eine Thorheit, von welcher man zu meinen Zeiten nicht die Ahnung gehabt hätte. Bab traf ich endlich mit ihren Töchtern zugänglich. Sie hatten alle die Migräne und nahmen, um die Folge des gestrigen Balles zu überwinden, hinter einander Pillen ein. Meine <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0481" n="453"/> die Verpflichtung hatte, für ihre moralische Ausbildung Sorge zu tragen. Dabei war der Egoismus meines Bruders doch sehr rührend für mich, denn bei dem Vorhaben, nur seinem Körper leben zu wollen, gönnte er sich nicht die geringste Erholung. An nichts hatte er sonst Lust und Freude. Von jedem Comfort war er entblößt; er saß auf harten Schemeln, schlief, trotz seines schwächlichen Körpers, nur auf Matrazen; er trank nie Kaffee oder Wein; damit nannte er sich einen Mann des Jahrhunderts, einen indischen Gymnosophisten, einen Johannes in der Wüste, der dem neuen Evangelium des Wassers vorangegangen wäre. Könnten wir zu Hause bei uns eine hinreichende Anzahl Heuschrecken auftreiben, ich glaube, mein Bruder würde in der Tollheit seiner Entsagungsphilosophie daraus seine tägliche Nahrung machen.</p> <p>Da ich nun wohl sah, daß der unglückliche Glückliche zu allem schwieg, was seine Wasserkuren nicht betraf, ging ich von ihm, ohne jedoch einen Schwall von Vorwürfen zu unterdrücken, die er verdient hatte, denn unerhört ist es, sich zehn Jahre lang nicht zu sehn und sich dann so wieder zu begegnen. Meine Schwester war in den unverantwortlichsten Leichtsinn versunken, mein Bruder in eine Thorheit, von welcher man zu meinen Zeiten nicht die Ahnung gehabt hätte. Bab traf ich endlich mit ihren Töchtern zugänglich. Sie hatten alle die Migräne und nahmen, um die Folge des gestrigen Balles zu überwinden, hinter einander Pillen ein. Meine </p> </div> </body> </text> </TEI> [453/0481]
die Verpflichtung hatte, für ihre moralische Ausbildung Sorge zu tragen. Dabei war der Egoismus meines Bruders doch sehr rührend für mich, denn bei dem Vorhaben, nur seinem Körper leben zu wollen, gönnte er sich nicht die geringste Erholung. An nichts hatte er sonst Lust und Freude. Von jedem Comfort war er entblößt; er saß auf harten Schemeln, schlief, trotz seines schwächlichen Körpers, nur auf Matrazen; er trank nie Kaffee oder Wein; damit nannte er sich einen Mann des Jahrhunderts, einen indischen Gymnosophisten, einen Johannes in der Wüste, der dem neuen Evangelium des Wassers vorangegangen wäre. Könnten wir zu Hause bei uns eine hinreichende Anzahl Heuschrecken auftreiben, ich glaube, mein Bruder würde in der Tollheit seiner Entsagungsphilosophie daraus seine tägliche Nahrung machen.
Da ich nun wohl sah, daß der unglückliche Glückliche zu allem schwieg, was seine Wasserkuren nicht betraf, ging ich von ihm, ohne jedoch einen Schwall von Vorwürfen zu unterdrücken, die er verdient hatte, denn unerhört ist es, sich zehn Jahre lang nicht zu sehn und sich dann so wieder zu begegnen. Meine Schwester war in den unverantwortlichsten Leichtsinn versunken, mein Bruder in eine Thorheit, von welcher man zu meinen Zeiten nicht die Ahnung gehabt hätte. Bab traf ich endlich mit ihren Töchtern zugänglich. Sie hatten alle die Migräne und nahmen, um die Folge des gestrigen Balles zu überwinden, hinter einander Pillen ein. Meine
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 453. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/481>, abgerufen am 06.07.2024. |