Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.der Eine von dem Andern herausgegeben und mit ihm zu theilen verlangt, sondern um das Princip: Was ist Recht? Was gebietet die Natur, die Vernunft in diesem oder jenem verwickelten und von dem Herkommen überlieferten Verhältnisse? Denken Sie besser von der Menschheit, ehrwürdiger Herr! Verurtheilen Sie uns nicht alle als Egoisten und Wegelagerer! Gott sey's geklagt, daß der Egoismus so vielen Vorsprung in der Jetztwelt gefunden hat; allein noch hat er nicht das ganze Terrain gewonnen. Unser Zeitalter ist ein kritisches. Es sträubt sich nicht unbedingt gegen die Vergangenheit; es will nur, daß jede Tradition derselben neu geprüft, mit Gründen der Billigkeit und des Rechts bestätigt werde. Recht und Gerechtigkeit, ja, ehrwürdiger Herr, dieser rein kritische, schöne und doch so leidenschaftliche und als solcher gefährliche Gedanke ist das Symbol der meisten Kämpfe, welche durch unsere jetzige Weltlage ausgefochten werden sollen. Dieß Symbol, das so viel Freiheit und Adel der Gesinnung, so viel Triumphe des scharfsinnigen Nachdenkens enthält, sollt' ich als Selbstgenügsamkeit, wie das Christenthum es benennen würde, preisgeben und um den Sieg desselben unbekümmert seyn? Jch sollte den Fabrikarbeitern, die Brod haben wollen, den Eckstein des Lebens, Christus, vorhalten und ihnen die Entbehrung als die Würze der kargen Kost, an welcher sie nagen, schildern? Nein, ehrwürdiger Herr, diese Lehre konnte zu einer Zeit gepredigt werden, als es für den Schwächern gegen der Eine von dem Andern herausgegeben und mit ihm zu theilen verlangt, sondern um das Princip: Was ist Recht? Was gebietet die Natur, die Vernunft in diesem oder jenem verwickelten und von dem Herkommen überlieferten Verhältnisse? Denken Sie besser von der Menschheit, ehrwürdiger Herr! Verurtheilen Sie uns nicht alle als Egoisten und Wegelagerer! Gott sey’s geklagt, daß der Egoismus so vielen Vorsprung in der Jetztwelt gefunden hat; allein noch hat er nicht das ganze Terrain gewonnen. Unser Zeitalter ist ein kritisches. Es sträubt sich nicht unbedingt gegen die Vergangenheit; es will nur, daß jede Tradition derselben neu geprüft, mit Gründen der Billigkeit und des Rechts bestätigt werde. Recht und Gerechtigkeit, ja, ehrwürdiger Herr, dieser rein kritische, schöne und doch so leidenschaftliche und als solcher gefährliche Gedanke ist das Symbol der meisten Kämpfe, welche durch unsere jetzige Weltlage ausgefochten werden sollen. Dieß Symbol, das so viel Freiheit und Adel der Gesinnung, so viel Triumphe des scharfsinnigen Nachdenkens enthält, sollt’ ich als Selbstgenügsamkeit, wie das Christenthum es benennen würde, preisgeben und um den Sieg desselben unbekümmert seyn? Jch sollte den Fabrikarbeitern, die Brod haben wollen, den Eckstein des Lebens, Christus, vorhalten und ihnen die Entbehrung als die Würze der kargen Kost, an welcher sie nagen, schildern? Nein, ehrwürdiger Herr, diese Lehre konnte zu einer Zeit gepredigt werden, als es für den Schwächern gegen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0425" n="397"/> der Eine von dem Andern herausgegeben und mit ihm zu theilen verlangt, sondern um das Princip: Was ist Recht? Was gebietet die Natur, die Vernunft in diesem oder jenem verwickelten und von dem Herkommen überlieferten Verhältnisse? Denken Sie besser von der Menschheit, ehrwürdiger Herr! Verurtheilen Sie uns nicht alle als Egoisten und Wegelagerer! Gott sey’s geklagt, daß der Egoismus so vielen Vorsprung in der Jetztwelt gefunden hat; allein noch hat er nicht das ganze Terrain gewonnen. Unser Zeitalter ist ein kritisches. Es sträubt sich nicht unbedingt gegen die Vergangenheit; es will nur, daß jede Tradition derselben neu geprüft, mit Gründen der Billigkeit und des Rechts bestätigt werde. Recht und Gerechtigkeit, ja, ehrwürdiger Herr, dieser rein kritische, schöne und doch so leidenschaftliche und als solcher gefährliche Gedanke ist das Symbol der meisten Kämpfe, welche durch unsere jetzige Weltlage ausgefochten werden sollen. Dieß Symbol, das so viel Freiheit und Adel der Gesinnung, so viel Triumphe des scharfsinnigen Nachdenkens enthält, sollt’ ich als <hi rendition="#g">Selbstgenügsamkeit</hi>, wie das Christenthum es benennen würde, preisgeben und um den Sieg desselben unbekümmert seyn? Jch sollte den Fabrikarbeitern, die Brod haben wollen, den Eckstein des Lebens, Christus, vorhalten und ihnen die Entbehrung als die Würze der kargen Kost, an welcher sie nagen, schildern? Nein, ehrwürdiger Herr, diese Lehre konnte zu einer Zeit gepredigt werden, als es für den Schwächern gegen </p> </div> </body> </text> </TEI> [397/0425]
der Eine von dem Andern herausgegeben und mit ihm zu theilen verlangt, sondern um das Princip: Was ist Recht? Was gebietet die Natur, die Vernunft in diesem oder jenem verwickelten und von dem Herkommen überlieferten Verhältnisse? Denken Sie besser von der Menschheit, ehrwürdiger Herr! Verurtheilen Sie uns nicht alle als Egoisten und Wegelagerer! Gott sey’s geklagt, daß der Egoismus so vielen Vorsprung in der Jetztwelt gefunden hat; allein noch hat er nicht das ganze Terrain gewonnen. Unser Zeitalter ist ein kritisches. Es sträubt sich nicht unbedingt gegen die Vergangenheit; es will nur, daß jede Tradition derselben neu geprüft, mit Gründen der Billigkeit und des Rechts bestätigt werde. Recht und Gerechtigkeit, ja, ehrwürdiger Herr, dieser rein kritische, schöne und doch so leidenschaftliche und als solcher gefährliche Gedanke ist das Symbol der meisten Kämpfe, welche durch unsere jetzige Weltlage ausgefochten werden sollen. Dieß Symbol, das so viel Freiheit und Adel der Gesinnung, so viel Triumphe des scharfsinnigen Nachdenkens enthält, sollt’ ich als Selbstgenügsamkeit, wie das Christenthum es benennen würde, preisgeben und um den Sieg desselben unbekümmert seyn? Jch sollte den Fabrikarbeitern, die Brod haben wollen, den Eckstein des Lebens, Christus, vorhalten und ihnen die Entbehrung als die Würze der kargen Kost, an welcher sie nagen, schildern? Nein, ehrwürdiger Herr, diese Lehre konnte zu einer Zeit gepredigt werden, als es für den Schwächern gegen
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/425 |
Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 397. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/425>, abgerufen am 28.07.2024. |