Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.erreiche Alles, indem sie in der Jugend die Vorstellung vom Guten weckt. Das ist leicht geschehen. Es soll auch die Uebung des Guten veranlaßt werden. Daß diese Uebung jedem Einzelnen selbst überlassen bleibt, daß man aus dem Gewissen einen so verzärtelnden und hätschelnden Hanswurst der Tugend machte und die Tugend darein setzte, ohne Reue schlafen zu können; das ist wahrlich das gefährlichste moralische Uebel, an welchem unsre Zeit kränkelt. Man hat gesagt, die Verbrechen steigern sich leider mit der Zunahme der Bildung. Welch' ein gräßlicher Satz, wenn er wahr wäre! Gott sey Dank, er ist nicht ganz so wahr, als man ihn ausgesprochen hat und zum Theil durch statistische Tabellen beweisen kann. Die Verbrechen steigen nur mit der Zunahme jener äußern Bildung, die die Statistiker in der Zunahme des Schulbesuches finden, und ähnlichen Dingen, die selbst, wenn sie als Hebung der untern Volksklassen ehrenwerth sind, doch nur immer kahl, inhalts- und wirkungslos dastehen, wenn sie durch keine umfassenden Thatsachen unterstützt werden. So bringt man nur das Bewußtseyn eines unglücklichen Dualismus in die Gemüther des Volkes und befördert die Verbrechen mehr, als man sie verhindert. Die Bildung, welche den Menschen veredelt und ihn zum Muster für Andre macht, besteht am allerwenigsten darin, daß jeder Rekrut, der zur Conscription kömmt, auch Lesen und Schreiben gelernt hat. Eine despotische Monarchie, deren Unterthanen noch so gut lesen und schreiben können, erreiche Alles, indem sie in der Jugend die Vorstellung vom Guten weckt. Das ist leicht geschehen. Es soll auch die Uebung des Guten veranlaßt werden. Daß diese Uebung jedem Einzelnen selbst überlassen bleibt, daß man aus dem Gewissen einen so verzärtelnden und hätschelnden Hanswurst der Tugend machte und die Tugend darein setzte, ohne Reue schlafen zu können; das ist wahrlich das gefährlichste moralische Uebel, an welchem unsre Zeit kränkelt. Man hat gesagt, die Verbrechen steigern sich leider mit der Zunahme der Bildung. Welch’ ein gräßlicher Satz, wenn er wahr wäre! Gott sey Dank, er ist nicht ganz so wahr, als man ihn ausgesprochen hat und zum Theil durch statistische Tabellen beweisen kann. Die Verbrechen steigen nur mit der Zunahme jener äußern Bildung, die die Statistiker in der Zunahme des Schulbesuches finden, und ähnlichen Dingen, die selbst, wenn sie als Hebung der untern Volksklassen ehrenwerth sind, doch nur immer kahl, inhalts- und wirkungslos dastehen, wenn sie durch keine umfassenden Thatsachen unterstützt werden. So bringt man nur das Bewußtseyn eines unglücklichen Dualismus in die Gemüther des Volkes und befördert die Verbrechen mehr, als man sie verhindert. Die Bildung, welche den Menschen veredelt und ihn zum Muster für Andre macht, besteht am allerwenigsten darin, daß jeder Rekrut, der zur Conscription kömmt, auch Lesen und Schreiben gelernt hat. Eine despotische Monarchie, deren Unterthanen noch so gut lesen und schreiben können, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0411" n="383"/> erreiche Alles, indem sie in der Jugend die <hi rendition="#g">Vorstellung</hi> vom Guten weckt. Das ist leicht geschehen. Es soll auch die <hi rendition="#g">Uebung</hi> des Guten veranlaßt werden. Daß diese Uebung jedem Einzelnen selbst überlassen bleibt, daß man aus dem Gewissen einen so verzärtelnden und hätschelnden Hanswurst der Tugend machte und die Tugend darein setzte, ohne Reue <hi rendition="#g">schlafen</hi> zu können; das ist wahrlich das gefährlichste moralische Uebel, an welchem unsre Zeit kränkelt. Man hat gesagt, die Verbrechen steigern sich leider mit der Zunahme der Bildung. Welch’ ein gräßlicher Satz, wenn er wahr wäre! Gott sey Dank, er ist nicht ganz so wahr, als man ihn ausgesprochen hat und zum Theil durch statistische Tabellen beweisen kann. Die Verbrechen steigen nur mit der Zunahme jener äußern Bildung, die die Statistiker in der Zunahme des Schulbesuches finden, und ähnlichen Dingen, die selbst, wenn sie als Hebung der untern Volksklassen ehrenwerth sind, doch nur immer kahl, inhalts- und wirkungslos dastehen, wenn sie durch keine umfassenden Thatsachen unterstützt werden. So bringt man nur das Bewußtseyn eines unglücklichen Dualismus in die Gemüther des Volkes und befördert die Verbrechen mehr, als man sie verhindert. Die Bildung, welche den Menschen veredelt und ihn zum Muster für Andre macht, besteht am allerwenigsten darin, daß jeder Rekrut, der zur Conscription kömmt, auch Lesen und Schreiben gelernt hat. Eine despotische Monarchie, deren Unterthanen noch so gut lesen und schreiben können, </p> </div> </body> </text> </TEI> [383/0411]
erreiche Alles, indem sie in der Jugend die Vorstellung vom Guten weckt. Das ist leicht geschehen. Es soll auch die Uebung des Guten veranlaßt werden. Daß diese Uebung jedem Einzelnen selbst überlassen bleibt, daß man aus dem Gewissen einen so verzärtelnden und hätschelnden Hanswurst der Tugend machte und die Tugend darein setzte, ohne Reue schlafen zu können; das ist wahrlich das gefährlichste moralische Uebel, an welchem unsre Zeit kränkelt. Man hat gesagt, die Verbrechen steigern sich leider mit der Zunahme der Bildung. Welch’ ein gräßlicher Satz, wenn er wahr wäre! Gott sey Dank, er ist nicht ganz so wahr, als man ihn ausgesprochen hat und zum Theil durch statistische Tabellen beweisen kann. Die Verbrechen steigen nur mit der Zunahme jener äußern Bildung, die die Statistiker in der Zunahme des Schulbesuches finden, und ähnlichen Dingen, die selbst, wenn sie als Hebung der untern Volksklassen ehrenwerth sind, doch nur immer kahl, inhalts- und wirkungslos dastehen, wenn sie durch keine umfassenden Thatsachen unterstützt werden. So bringt man nur das Bewußtseyn eines unglücklichen Dualismus in die Gemüther des Volkes und befördert die Verbrechen mehr, als man sie verhindert. Die Bildung, welche den Menschen veredelt und ihn zum Muster für Andre macht, besteht am allerwenigsten darin, daß jeder Rekrut, der zur Conscription kömmt, auch Lesen und Schreiben gelernt hat. Eine despotische Monarchie, deren Unterthanen noch so gut lesen und schreiben können,
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 383. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/411>, abgerufen am 16.02.2025. |