Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.geworden. Sie haben sich alle glücklicher verheirathet, als sie es verdienten, nur Livia ist noch übrig und intriguirt, um zu einer Partie zu kommen. Weil ihre Schwestern schon das pädagogische Handwerk trieben, so ergriff sie es selbst ohne Weihe, ohne ernsten Entschluß. Die Lehrerin war für sie eine Tradition, eine Familienprofession, ein ausgetretener Schuh, in welchen sie ihren eignen Fuß nur hineinzustecken brauchte. Sie war viel zu jung, als sie das Handwerk begann. Sie begann es mit kleinen Kindern, denen sie die ersten Rechnungs- und Buchstabenbegriffe beibrachte. Während sie schon lehrte, lernte sie noch. Sie tyrannisirte schon Andre, als sie selbst noch tyrannisirt wurde. Sie war Mitglied der ersten Klasse, als sie in der letzten schon die Herrin spielte. So blieb sie kindisch und intriguant in allen ihren Manieren und trieb von Jugend auf die Erziehung als eine unartige Leidenschaft, indem sie sich für ihre eigne Abhängigkeit an der Unabhängigkeit Anderer rächte. Livia kannte keinen größern Stolz, als sie endlich die letzte Klasse, ein siebenzehnjähriges Mädchen, verließ, als den, recht bald in sie als Lehrerin wieder zurückzukehren. Sie blieb kindisch und unreif, wie sie war, und nahm nur eine neue Richtung in ihre beschränkten Anschauungen auf, die Verliebtheit. Sie war nicht häßlich. Sie hatte dunkle, leidenschaftliche Augen, schwarzes Haar, weißen Teint, obschon ohne allen Rosenanhauch der Wangen; die Jagd auf Männer gab ihr Welterfahrung. Alles, was sie jetzt von praktischer Philosophie geworden. Sie haben sich alle glücklicher verheirathet, als sie es verdienten, nur Livia ist noch übrig und intriguirt, um zu einer Partie zu kommen. Weil ihre Schwestern schon das pädagogische Handwerk trieben, so ergriff sie es selbst ohne Weihe, ohne ernsten Entschluß. Die Lehrerin war für sie eine Tradition, eine Familienprofession, ein ausgetretener Schuh, in welchen sie ihren eignen Fuß nur hineinzustecken brauchte. Sie war viel zu jung, als sie das Handwerk begann. Sie begann es mit kleinen Kindern, denen sie die ersten Rechnungs- und Buchstabenbegriffe beibrachte. Während sie schon lehrte, lernte sie noch. Sie tyrannisirte schon Andre, als sie selbst noch tyrannisirt wurde. Sie war Mitglied der ersten Klasse, als sie in der letzten schon die Herrin spielte. So blieb sie kindisch und intriguant in allen ihren Manieren und trieb von Jugend auf die Erziehung als eine unartige Leidenschaft, indem sie sich für ihre eigne Abhängigkeit an der Unabhängigkeit Anderer rächte. Livia kannte keinen größern Stolz, als sie endlich die letzte Klasse, ein siebenzehnjähriges Mädchen, verließ, als den, recht bald in sie als Lehrerin wieder zurückzukehren. Sie blieb kindisch und unreif, wie sie war, und nahm nur eine neue Richtung in ihre beschränkten Anschauungen auf, die Verliebtheit. Sie war nicht häßlich. Sie hatte dunkle, leidenschaftliche Augen, schwarzes Haar, weißen Teint, obschon ohne allen Rosenanhauch der Wangen; die Jagd auf Männer gab ihr Welterfahrung. Alles, was sie jetzt von praktischer Philosophie <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0401" n="373"/> geworden. Sie haben sich alle glücklicher verheirathet, als sie es verdienten, nur Livia ist noch übrig und intriguirt, um zu einer Partie zu kommen. Weil ihre Schwestern schon das pädagogische Handwerk trieben, so ergriff sie es selbst ohne Weihe, ohne ernsten Entschluß. Die Lehrerin war für sie eine Tradition, eine Familienprofession, ein ausgetretener Schuh, in welchen sie ihren eignen Fuß nur hineinzustecken brauchte. Sie war viel zu jung, als sie das Handwerk begann. Sie begann es mit kleinen Kindern, denen sie die ersten Rechnungs- und Buchstabenbegriffe beibrachte. Während sie schon lehrte, lernte sie noch. Sie tyrannisirte schon Andre, als sie selbst noch tyrannisirt wurde. Sie war Mitglied der ersten Klasse, als sie in der letzten schon die Herrin spielte. So blieb sie kindisch und intriguant in allen ihren Manieren und trieb von Jugend auf die Erziehung als eine unartige Leidenschaft, indem sie sich für ihre eigne Abhängigkeit an der Unabhängigkeit Anderer rächte. Livia kannte keinen größern Stolz, als sie endlich die letzte Klasse, ein siebenzehnjähriges Mädchen, verließ, als den, recht bald in sie als Lehrerin wieder zurückzukehren. Sie blieb kindisch und unreif, wie sie war, und nahm nur <hi rendition="#g">eine</hi> neue Richtung in ihre beschränkten Anschauungen auf, die Verliebtheit. Sie war nicht häßlich. Sie hatte dunkle, leidenschaftliche Augen, schwarzes Haar, weißen Teint, obschon ohne allen Rosenanhauch der Wangen; die Jagd auf Männer gab ihr Welterfahrung. Alles, was sie jetzt von praktischer Philosophie </p> </div> </body> </text> </TEI> [373/0401]
geworden. Sie haben sich alle glücklicher verheirathet, als sie es verdienten, nur Livia ist noch übrig und intriguirt, um zu einer Partie zu kommen. Weil ihre Schwestern schon das pädagogische Handwerk trieben, so ergriff sie es selbst ohne Weihe, ohne ernsten Entschluß. Die Lehrerin war für sie eine Tradition, eine Familienprofession, ein ausgetretener Schuh, in welchen sie ihren eignen Fuß nur hineinzustecken brauchte. Sie war viel zu jung, als sie das Handwerk begann. Sie begann es mit kleinen Kindern, denen sie die ersten Rechnungs- und Buchstabenbegriffe beibrachte. Während sie schon lehrte, lernte sie noch. Sie tyrannisirte schon Andre, als sie selbst noch tyrannisirt wurde. Sie war Mitglied der ersten Klasse, als sie in der letzten schon die Herrin spielte. So blieb sie kindisch und intriguant in allen ihren Manieren und trieb von Jugend auf die Erziehung als eine unartige Leidenschaft, indem sie sich für ihre eigne Abhängigkeit an der Unabhängigkeit Anderer rächte. Livia kannte keinen größern Stolz, als sie endlich die letzte Klasse, ein siebenzehnjähriges Mädchen, verließ, als den, recht bald in sie als Lehrerin wieder zurückzukehren. Sie blieb kindisch und unreif, wie sie war, und nahm nur eine neue Richtung in ihre beschränkten Anschauungen auf, die Verliebtheit. Sie war nicht häßlich. Sie hatte dunkle, leidenschaftliche Augen, schwarzes Haar, weißen Teint, obschon ohne allen Rosenanhauch der Wangen; die Jagd auf Männer gab ihr Welterfahrung. Alles, was sie jetzt von praktischer Philosophie
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 373. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/401>, abgerufen am 16.02.2025. |