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Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.

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Persönlichkeit, die gewöhnlich erst über Politik mit den Scholaren verhandelte, ehe der Unterricht begann. Der Mann trug jedenfalls sein Lehrerjoch mit Verzweiflung, er hätte sich weit mehr zum Journalisten gepaßt, oder wenigstens zu einem beschäftigten Ehemann, indeß er unverheirathet blieb und, wie man sagte, viel Verdrießlichkeiten mit seinen Haushälterinnen hatte. Mir ist es ein Räthsel, wie sich unter uns jungen Leuten die vollständige Lebensgeschichte dieses Mannes so authentisch verbreiten konnte. Wir wußten, daß dieser Mann von der Frau eines Schmieds, die aber keine Venus war, in allen seinen Verhältnissen abhing. Wir wußten, daß die Kinder des Schmieds alle unserm Demostheneserklärer glichen: wir wußten, daß er sich plötzlich mit dem rohen aber üppigen Weibe überwarf und den heldenmüthigen Entschluß faßte, aus dem Netze dieser Circe, das ihr Mann als Vulkan eher trennte, wie spann, sich zu befreien. Auf alle diese Dinge war dieser junge Mann (von einigen und dreißig Jahren) mehr bedacht, als auf den Demosthenes, den er nichtsdestoweniger zu lieben schien, wenn auch nicht mit der verliebten Leidenschaft, die einmal sein Temperament war und ihn hinderte, Andere etwas von seinem Gegenstande abbekommen zu lassen. Wir sprachen viel mit ihm über den Riß in der ersten Olythischen Rede, ob sie nicht vielleicht aus zwei heterogenen Theilen bestände; allein mir ist nie ein Verhältniß klar geworden, das Demosthenes betraf, kaum die Disposition seiner Reden, viel weniger die Absicht derselben.

Persönlichkeit, die gewöhnlich erst über Politik mit den Scholaren verhandelte, ehe der Unterricht begann. Der Mann trug jedenfalls sein Lehrerjoch mit Verzweiflung, er hätte sich weit mehr zum Journalisten gepaßt, oder wenigstens zu einem beschäftigten Ehemann, indeß er unverheirathet blieb und, wie man sagte, viel Verdrießlichkeiten mit seinen Haushälterinnen hatte. Mir ist es ein Räthsel, wie sich unter uns jungen Leuten die vollständige Lebensgeschichte dieses Mannes so authentisch verbreiten konnte. Wir wußten, daß dieser Mann von der Frau eines Schmieds, die aber keine Venus war, in allen seinen Verhältnissen abhing. Wir wußten, daß die Kinder des Schmieds alle unserm Demostheneserklärer glichen: wir wußten, daß er sich plötzlich mit dem rohen aber üppigen Weibe überwarf und den heldenmüthigen Entschluß faßte, aus dem Netze dieser Circe, das ihr Mann als Vulkan eher trennte, wie spann, sich zu befreien. Auf alle diese Dinge war dieser junge Mann (von einigen und dreißig Jahren) mehr bedacht, als auf den Demosthenes, den er nichtsdestoweniger zu lieben schien, wenn auch nicht mit der verliebten Leidenschaft, die einmal sein Temperament war und ihn hinderte, Andere etwas von seinem Gegenstande abbekommen zu lassen. Wir sprachen viel mit ihm über den Riß in der ersten Olythischen Rede, ob sie nicht vielleicht aus zwei heterogenen Theilen bestände; allein mir ist nie ein Verhältniß klar geworden, das Demosthenes betraf, kaum die Disposition seiner Reden, viel weniger die Absicht derselben.

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Persönlichkeit, die gewöhnlich erst über Politik mit den Scholaren verhandelte, ehe der Unterricht begann. Der Mann trug jedenfalls sein Lehrerjoch mit Verzweiflung, er hätte sich weit mehr zum Journalisten gepaßt, oder wenigstens zu einem beschäftigten Ehemann, indeß er unverheirathet blieb und, wie man sagte, viel Verdrießlichkeiten mit seinen Haushälterinnen hatte. Mir ist es ein Räthsel, wie sich unter uns jungen Leuten die vollständige Lebensgeschichte dieses Mannes so authentisch verbreiten konnte. Wir wußten, daß dieser Mann von der Frau eines Schmieds, die aber keine Venus war, in allen seinen Verhältnissen abhing. Wir wußten, daß die Kinder des Schmieds alle unserm Demostheneserklärer glichen: wir wußten, daß er sich plötzlich mit dem rohen aber üppigen Weibe überwarf und den heldenmüthigen Entschluß faßte, aus dem Netze dieser Circe, das ihr Mann als Vulkan eher trennte, wie spann, sich zu befreien. Auf alle diese Dinge war dieser junge Mann (von einigen und dreißig Jahren) mehr bedacht, als auf den Demosthenes, den er nichtsdestoweniger zu lieben schien, wenn auch nicht mit der verliebten Leidenschaft, die einmal sein Temperament war und ihn hinderte, Andere etwas von seinem Gegenstande abbekommen zu lassen. Wir sprachen viel mit ihm über den Riß in der ersten Olythischen Rede, ob sie nicht vielleicht aus zwei heterogenen Theilen bestände; allein mir ist nie ein Verhältniß klar geworden, das Demosthenes betraf, kaum die Disposition seiner Reden, viel weniger die Absicht derselben.</p>
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[365/0393] Persönlichkeit, die gewöhnlich erst über Politik mit den Scholaren verhandelte, ehe der Unterricht begann. Der Mann trug jedenfalls sein Lehrerjoch mit Verzweiflung, er hätte sich weit mehr zum Journalisten gepaßt, oder wenigstens zu einem beschäftigten Ehemann, indeß er unverheirathet blieb und, wie man sagte, viel Verdrießlichkeiten mit seinen Haushälterinnen hatte. Mir ist es ein Räthsel, wie sich unter uns jungen Leuten die vollständige Lebensgeschichte dieses Mannes so authentisch verbreiten konnte. Wir wußten, daß dieser Mann von der Frau eines Schmieds, die aber keine Venus war, in allen seinen Verhältnissen abhing. Wir wußten, daß die Kinder des Schmieds alle unserm Demostheneserklärer glichen: wir wußten, daß er sich plötzlich mit dem rohen aber üppigen Weibe überwarf und den heldenmüthigen Entschluß faßte, aus dem Netze dieser Circe, das ihr Mann als Vulkan eher trennte, wie spann, sich zu befreien. Auf alle diese Dinge war dieser junge Mann (von einigen und dreißig Jahren) mehr bedacht, als auf den Demosthenes, den er nichtsdestoweniger zu lieben schien, wenn auch nicht mit der verliebten Leidenschaft, die einmal sein Temperament war und ihn hinderte, Andere etwas von seinem Gegenstande abbekommen zu lassen. Wir sprachen viel mit ihm über den Riß in der ersten Olythischen Rede, ob sie nicht vielleicht aus zwei heterogenen Theilen bestände; allein mir ist nie ein Verhältniß klar geworden, das Demosthenes betraf, kaum die Disposition seiner Reden, viel weniger die Absicht derselben.

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Gutzkow Editionsprojekt: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-09-13T12:39:16Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 365. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/393>, abgerufen am 25.11.2024.